Rezension

Überaus lesenswert!

Die Überlebenden -

Die Überlebenden
von Alex Schulman

Bewertet mit 5 Sternen

Problematiken, die nicht selten in Familien auftreten (...)

Ich habe die 'Überlebenden' aufgrund der Rezension einer Buchhändlerin in der Zeitung gekauft und mir auch gleich auf halbem Weg der Lektüre das 'Nachfolgemodell' bestellt. Die positive Kritik hat mich genauso angesprochen wie die Thematik: Beziehungen, dysfunktionale Familie.

Die drei Brüder Benjamin, Pierre und Nils wachsen in einem Oberklasse-Haushalt auf 'Erzogen wie Adelige und darauf gedrillt, den Rücken stets gerade zu halten, vor dem Essen ein Tischgebet zu sprechen und den Eltern nach der Mahlzeit die Hand zu schütteln. Doch es gab kein Geld, beziehungsweise: Nur wenig davon wurde in die Kinder investiert (235)'. Es war Benjamins Aufgabe '(…) zu heilen, sodass die Familienmitglieder miteinander reden konnten (...)(189)'. Pierre macht lange Zeit in die Hose und Nils ist die Hoffnung der Familie, der Sohn, aus dem einmal etwas werden würde (110). Die Brüder sind in ihrem (Familien-)Schicksal miteinander verbunden, lieben sich, doch es herrscht auch Entfremdung. Nach dem Tod der Mutter erfüllen sie den Auftrag, ihre Asche wunschgemäß über dem See des Sommerhauses zu verstreuen.

Der Roman oszilliert zwischen Rückblenden in Kindheit und Jugend und dem Geschehen in der Gegenwart. Als die Brüder in der Gegenwart aufeinanderprallen, kommt es zu Konflikten, zum Aufkeimen alter Verletzungen und Wunden und auch zu handfesten Auseinandersetzungen 'Eine weitere Verletzung, die sich zu den anderen gesellte, weitere dünne Fäden zwischen den Brüdern, die rissen (280)'.

Es geht in dem Roman um Themen wie Traumata, Beziehungsstörungen, ungelebte Wünsche, sehen und gesehen werden, Geliebtwerdenwollen, Geschwisterkonflikte, Alkoholismus, Vernachlässigung, Überforderung, Einsamkeit ('wenn die Geräusche verschwinden, verschwindet die Welt, und je stiller es wurde, desto stärker wurde sein Gefühl, den Kontakt mit der Wirklichkeit zu verlieren (260)', Tod, Liebe, Verbundenheit, Entfremdung, Kommunikationsunfähigkeit ('Doch sie redeten nicht über Dinge, die passiert waren, das hatten sie nie getan, keiner wusste, wie das ging (210)'), Konfliktscheue, Sehnsucht nach Nähe, Erwachsenenwerden, Narben, die das Schicksal schlägt, innere Kinder, Verantwortung, Selbstzweifel, Schuldgefühle, Hilflosigkeit, die ganze Palette menschlichen Daseins und derart detailliert und authentisch kann das eigentlich nur jemand schreiben ,der solches selbst erlebt hat.

Mir gefällt das Buch aufgrund des Inhaltes, der Realitätsnähe (kaum eine Familie funktioniert zu 100%), der detaillierten Beschreibungen, des feinen Blicks, der Metaphorik. So wird z.B. durch die Wiederholung zweier Sätze an verschiedenen Stellen im Roman der rote Faden durch die Erzählung gesponnen und die Narration mit der Wirklichkeit verknüpft, die Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden. 'Das Polizeiauto, das durch das blaue Grün pflügt, die Traktorspur zum Hof hinunter, das Sommerhaus, einsam auf der Landzunge, in der nie ganz schwarzen Juninacht (9, 32...)'. Allein die Wortwahl 'blaues Grün' drückt in nur zwei Worten Jahreszeit, Wetter und Naturumgebung gleichermaßen kurz und knackig und bildhaft aus.

Ich kann das Buch nur empfehlen, kann mir auch gut vorstellen, es noch einmal zu lesen und an 'Betroffene' zu verschenken.