Rezension

Kunstvoll komponiertes Familiendrama

Die Überlebenden -

Die Überlebenden
von Alex Schulman

Bewertet mit 4.5 Sternen

Alex Schulmans Debütroman „Die Überlebenden“ fällt insbesondere durch seine kunstvolle und innovative Romankomposition der unter die Haut gehenden tragischen Familiengeschichte dreier Brüder auf.

Die Brüder Benjamin, Pierre und Nils kehren gemeinsam in das an einem schwedischen See gelegene Sommerhaus ihrer Kindheit zurück, um die Asche ihrer kürzlich verstorbenen Mutter auf ihren letzten Wunsch hin zu verstreuen. Dieser Ort ist von erschütternden Kindheitserinnerungen geprägt, die zumeist im diametralen Widerspruch zu der scheinbar idyllischen Natur stehen. Der Leser begleitet den Er-Erzähler Benjamin auf dieser Reise durch die Natur und die Zeit, bei der er bemüht ist, sich seinen Brüdern, die sich trotz oder gerade wegen ihres gemeinsamen Schicksals auseinandergelebt haben, wieder anzunähern und erfährt dabei Unglaubliches.  

Durch ständigen Alkoholkonsum sind die Eltern in der Kindheit der Jungen unberechenbar und wirken abwechselnd depressiv oder aggressiv, eine erschütternde familiäre Situation! Dies beeinflusst auch die anfangs enge Beziehung der ungleichen Brüder, die mal zusammenhalten und mal rivalisieren. Jeder bildet unterschiedliche Vermeidungs- und Verarbeitungsstrategien aus: Während der ältere Nils versucht, sich vermehrt brenzligen Situationen zu entziehen, entwickelt sich der kleine Pierre zu einem Draufgänger.  Benjamin, der von klein auf jegliche Stimmungen und Verhaltensweisen innerhalb seiner Familie beobachtet und zu deuten versucht, flieht in Beobachtungen und agiert deeskalierend und vorausschauend. Dadurch entfernen sich die Brüder innerlich und äußerlich voneinander. Erst die anstehende Beerdigung führt sie nach fast zwei Jahrzehnten wieder zusammen und lässt sie gemeinsam in die Vergangenheit eintauchen. Aber auch das erfolgt nicht konfliktfrei.

Das Besondere ist die Form des Romans, der kapitelweise und alternierend auf zwei Zeitebenen erzählt wird. Die Gegenwart läuft rückwärts und beschränkt sich auf die Ereignisse rund um den Tag der Beerdigung der Mutter. Der Roman beginnt somit mit der eigentlich letzten Szene der Geschichte. Die Vergangenheit verläuft hingegen recht chronologisch und umfasst mehrere Jahre der Kindheit und Jugend der Brüder. Insofern laufen die beiden Erzählstränge aufeinander zu. Diese Komposition ist wirklich außergewöhnlich, gerade auch weil sie im Aufbau der Traumabewältigung des Protagonisten entspricht. Der Leser ist so gezwungen, aus Erinnerungen und Indizien in der Gegenwart, die Puzzleteilen gleichen, die Geschichte des Romans zusammenzusetzen. Eine spannende Technik, die aber auch beinhaltet, dass besonders in der ersten Hälfte eine gewisse Distanz zum Erzählten und zum Erzähler gewahrt wird und die Figuren blass wirken. Hier stagniert die Handlung dann auch bisweilen. Aber auch dies entspricht der „Traumabewältigung“ von Benjamin. Im letzten Teil hingegen nimmt die Spannung nicht zuletzt aufgrund einer unglaublichen Entdeckung Fahrt auf.

Ein großes Plus des Textes ist der gekonnte Umgang mit Sprache. Dem Autor gelingt es fantastisch, die friedvolle schwedische Natur und die Erinnerungen an sie in bildlicher Sprache einzufangen. Gleichzeitig baut er durch einen doch sachlichen Stil bei der Beschreibung von Grausamkeiten, die die Kinder erlebt haben und die sich in der aktuellen Beziehung der Brüder fortsetzen, eine schützende Distanz auf.

So hat Schulman einen melancholischen und dramatischen Roman über die toxische Wirkung eines unbearbeiteten Schicksalsschlags in einer kommunikationslosen Familie geschaffen, der erstaunliche Wendungen vollzieht und den Leser ergriffen und beklemmt zurücklässt. Da es sich um ein Erstlingswerk handelt, bin ich sehr gespannt auf hoffentlich weitere Texte. „Die Überlebenden“ erhalten in jedem Fall meine Leseempfehlung!