Rezension

Kunstvoll komponiert

Die Überlebenden -

Die Überlebenden
von Alex Schulman

Bewertet mit 5 Sternen

Schulmans Romanerstling erzählt die packende Geschichte dreier Brüder, die sich treffen, um die Asche ihrer Mutter gemäß ihrem letzten Willen zu verstreuen. Dies geschieht am Sommerhaus der Familie, wo ein traumatischer Unfall zur Entfremdung der Brüder geführt hat. Was ist damals geschehen? Können die Brüder das Schweigen brechen und wieder zueinander finden?

Der Roman besticht durch eine kunstvoll komponierte Konstruktion; es lohnt sich, ihn sehr genau zu lesen. „ Was sich hier auf der Steintreppe abspielt, [...] ist nur der letzte Ring auf dem Wasser, der äußerste, der am weitesten vom Einschlagpunkt entfernt ist“, erfahren wir am Ende des ersten Kapitels. Der Erzählstrang der Gegenwart folgt in seiner Struktur diesem Bild. Nicht nur läuft die Erzählzeit in jedem Kapitel aus dem Jetzt um 2 Stunden in die Vergangenheit, jedes Kapitel endet mit den Sätzen, mit denen das vorherige angefangen hat, und erschafft damit eine Kreisform. Der Strang der Vergangenheit, der chronologisch aus der Vergangenheit in die Gegenwart geschildert wird, ist dazu faktisch gegenläufig. Auch das gießt der Autor in eine Metapher: „Die Zeit ist ein Kiesweg; hält man sich rechts, kann man an der linken Seite sich selbst vorüber ziehen sehen.“ Mit seinen beiden Erzählsträngen hat er den Kiesweg abgebildet, der zum Sommerhaus führt.

Aber Schulman ist nicht nur ein Magier der Struktur. Mit großer psychologischer Feinfühligkeit schildert er das Leben einer dysfunktionalen Familie: Die Eltern sind Alkoholiker mit den dafür typischen Stimmungsschwankungen. Der ständige Wechsel von Zuwendung und Aggression führt bei den Jungen, im Wettbewerb um die Liebe der Eltern, zum Wechsel zwischen Solidarität und Verrat,  zwischen Schuldgefühlen und Groll.

Sehr schlüssig auch die unterschiedlichen Strategien, mit denen er die Jungen dieser Umwelt begegnen lässt. Nils, der Älteste, drückt alles weg. Pierre, der Jüngste, agiert das Erlebte mit Gewalt aus. Benjamin ist der sensible Beobachter, der versucht, die Familie zusammenzuhalten. Man möchte um die Jungen weinen, so zärtlich schildert Schulman ihre Bedrängnis.

„Was ist mit uns passiert?“ fragt sich Benjamin im Lauf der Geschichte immer wieder. Wir erleben über die Jahre, wie seine Psyche immer mehr zerrüttet, bis es nur durch großes Glück nicht zur Katastrophe kommt. Seine Erinnerung ist das Schlüsselelement des Romans. Als Benjamin begreift, was wirklich geschehen ist, fällt ein ganz neues Licht auf die Geschichte. Bis dahin entsteht eine fast atemlose Spannung – ich habe das Buch förmlich verschlungen. 

Das alles gießt Schulman in eine bildmächtige, oft lyrische Sprache. Ein Genuss. Und ein sehr besonderer Roman, den ich uneingeschränkt empfehle.

Kommentare

Kleine_Raupe kommentierte am 11. August 2021 um 12:15

Großes Kompliment für diese Rezension! Ganz toll!

alasca kommentierte am 11. August 2021 um 17:34

Lieben Dank! War ja auch ein tolles Buch. Da fällt es leicht.