Rezension

Ein Holzhaus am See...

Die Überlebenden -

Die Überlebenden
von Alex Schulman

Bewertet mit 5 Sternen

Genial konstruierter Roman mit ungeheurem Einfühlungsvermögen. Ein Jahreshighlight, das ich am liebsten gleich nochmal lesen würde...

Nach zwei Jahrzehnten kehren die Brüder Benjamin, Pierre und Nils zum Ort ihrer Kindheit – ein Holzhaus am See – zurück, um die Asche ihrer Mutter zu verstreuen. Eine Reise durch die raue, unberührte Natur wie auch durch die Zeit. Im Kampf um die Liebe der Mutter, die abweisend und grob, dann wieder beinahe zärtlich war, haben die Jungen sich damals aufgerieben bis zur Erschöpfung. Heute fühlen sie sich so weit voneinander entfernt, dass es kein Aufeinanderzu mehr zu geben scheint. Und doch ist da dieser Rest Hoffnung, den Riss in der Welt zu kitten, wenn sie sich noch einmal gemeinsam in die Vergangenheit vorwagen. (Klappentext)

 

Der Klappentext verrät im Grunde ausreichend, wovon dieser Roman erzählt. Abgesehen vielleicht davon, dass die Gegenwartsebene im Roman – in der die drei Brüder mit einer Urne durchs Land fahren, um die Asche ihrer Mutter an einem See zu verstreuen – dem wirklichen Leben des Autors entliehen ist. Die Rückblenden in die Vergangenheit seien dagegen fiktiv, so Alex Schulman in seinem Vorwort an den Leser / die Leserin. Der Roman insgesamt sollte in jedem Fall die gleiche Frage stellen wie der Autor, wenn er an seine Kindheit und an seine Brüder zurückdenkt: Was ist passiert?

Der Antwort auf diese Frage nähert sich der Roman behutsam und allmählich an, wobei die Erzählstränge der verschiedenen Zeitebenen wunderbar ineinandergreifen und sich der Autor eines geschickten Schachzuges bedient. Der Gegenwartsstrang ist rückwärts gerichtet, wird in 2-Stunden-Schritten von hinten nach vorne erzählt, die Geschehnisse der Vergangenheit dagegen werden als Kontrapunkt chronologisch fortschreitend erzählt, so dass sich die Zeitebenen insgesamt aufeinander zu bewegen und sich oftmals ein Kreis schließt - Fragen, die sich beim Lesen stellen, werden kurz darauf wieder aufgelöst. Ein kunstvoll und originell konstruierter Roman, der mich allein vom Aufbau her schon begeistern konnte.

 

Was sich hier auf der Steintreppe abspielt, das Weinen der drei Brüder, die geschwollenen Gesichter und all das Blut, ist nur der letzte Ring auf dem Wasser, der äußerste, der am weitesten vom Einschlagpunkt entfernt ist.  (S. 13)

 

Der Schreibstil ist ruhig und eindringlich, überaus bildhaft, stellenweise sehr poetisch und mit zahllosen Gefühlen zwischen den Zeilen behaftet. Die Charaktere werden eher spröde gezeichnet, und doch kann man erahnen, wie es den so unterschiedlichen drei Brüdern ergeht. Die drei Jungen sind in derselben Familie groß geworden, haben Ähnliches erlebt, und doch geht jeder anderes damit um: Benjamin fühlt sich für alles und jeden verantwortlich, versucht alles im Vorfeld auszuloten und wenn möglich zu entschärfen, Nils sieht weg und entfernt sich aus Situationen und schafft dadurch eine Distanz zu allem, Pierre ist oft hilflos und neigt eher zur Gleichgültigkeit und später zur Wut. Die drei sind jeder für sich einsame Trabanten, die gelegentlich versuchen aneinander Halt zu finden…Und abgesehen von den unsensiblen Eltern, die eher um sich kreisen als die drei Brüder wahrzunehmen und die den Wettkampf unter den dreien schüren, gibt es noch ein großes Tabuthema in der Familie, ein totgeschwiegenes Ereignis, dem der Leser / die Leserin erst ganz am Ende auf die Spur kommt. Der Einschlagpunkt, wenn man bei dem Bild aus dem Zitat bleiben will, der vieles zu erklären vermag und auch den Titel des Romans ins rechte Licht rückt…

Ein leiser, oft melancholisch gehaltener Roman, der mit einem Schlag in den Magen endet, so habe ich es empfunden. Eine Erzählung von emotionaler Wucht, genial konstruiert und von auch weit über das Lesen hinaus anhaltendem Eindruck. Ein Roman, der mich vollkommen in den Bann gezogen hat und den ich mit einigem zeitlichen Abstand gerne noch einmal lesen möchte. 

Ein Jahreshighlight, für das ich nur eine dringende Leseempfehlung aussprechen kann…

© Parden