Rezension

Mittsommer ohne Schwedenromantik

Die Überlebenden -

Die Überlebenden
von Alex Schulman

Bewertet mit 4 Sternen

Auf den Waldwegen hinter meinem Elternhaus kann ich mühelos in die verschiedenen Zeiten meiner Kindheit und Jugend schlüpfen. Pilze suchen im Herbst, lange Sommertage am See mit der ganzen Familie, Radtouren und Sonntagsspaziergänge. Ausgedehnte Runden allein mit dem Hund, um die vielen Gedanken in meinem Kopf zu ordnen. Letzteres mein Allheilmittel bis heute. Natürlich wechselten sich gute und weniger gute Tage ab. Das Leben ist nun mal kein Ponyhof und die Familie besteht auch nur aus Menschen mit Stärken und Schwächen. Doch im Vergleich zu den drei Jungen in Alex Schulmans Roman hatte ich wohl das, was man eine behütete Kindheit nennt. Benjamin, Nils und Pierre verbringen die schwedischen Sommer mit ihren Eltern im Holzhaus am See. Unweigerlich schießen einem weichgezeichnete Fernsehbilder in den Kopf, in der vor malerischer schwedischer Mittsommerkulisse schöne Menschen romantische Geschichten erleben. Auf dieses Klischee lässt sich Schulman nicht ein. Benjamins Eltern haben ein eigenes Verständnis von Fürsorge und Feriengestaltung. Mittsommertradition der Familie ist es zum Beispiel, den anderen Familien das Mittsommerfest zu überlassen und stattdessen an der Schnellstraße in der leeren Raststätte essen zu gehen – Vodkatanken inklusive. Überhaupt ist Alkohol ein wichtiger Bestandteil im Ferienalltag der Eltern. Essen, Alkohol und Rauschausschlafen wechseln sich ab und bestimmen den Tagesrhythmus. Die Jungen sind größtenteils sich selbst überlassen. Wobei Nils als der Ältere sich gern abseits hält und wenig mit seinen Brüdern anzufangen weiß. Benjamin beobachtet vor allem und versucht einzuschätzen, wann seine Mutter in guter Laune ist und wann man ihr besser aus dem Weg geht. Pierre als Jüngster ist noch hin und hergerissen zwischen Nesthäkchen und Draufgänger sein. Sie gehen alle drei nicht zimperlich miteinander um, aber wenn es drauf ankommt, halten sie auch zusammen. Doch an dem verhängnisvollen Mittsommernachmittag, an dem die betrunkenen Eltern ihren täglichen Rausch ausschlafen, passiert ein Unfall, der das Leben der Familie für immer verändert.

Schulmans Roman beginnt mit einem Polizeiauto, dass sich auf der Traktorspur zum Holzhaus am See durchkämpft. Drei erwachsene, sichtlich mitgenommene Männer halten sich weinend im Arm. Sie sind angespannt und durcheinander. Keiner der drei hätte wohl damit gerechnet noch einmal hierher zurückzukommen. Doch der Brief der Mutter war eindeutig. Sie wollte nicht neben dem Vater begraben werden, sondern ihre Asche solle am See verstreut werden. Nun sind sie hier und müssen sich den Geistern der Vergangenheit stellen.

In „Die Überlebenden“ bedient sich der Autor einer raffinierten Erzähltaktik. Sein personaler Erzähler Benjamin wechselt ständig zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Während die Vergangenheit sich chronologisch der Gegenwart annähert, wird die Gegenwart rückwärtsgewandt erzählt, als steuere sie auf einen Nullpunkt hin. Die Sommertage am See nehmen viel Raum ein, die Jahre und Jahrzehnte zwischen den Zeiten am See sind auf Episoden und Zusammenfassungen eingekürzt. Benjamins Perspektive ist einseitig. Irgendwann ertappe ich mich dabei, ihm und seinen Erinnerungen zu misstrauen. Wie schwer wiegen die Folgen seines Unfalls noch immer für ihn?

Dieser Roman ist auf vielen Ebenen herausfordernd. Seine anfänglichen Ecken und Kanten wandeln sich zunehmend in fesselnde wie verstörende Aufnahmen einer Familie, in der die Eltern in ihrer fürsorgenden Rolle völlig überfordert sind und die Dynamik unter den Geschwistern keine positive Lenkung erhält. Bis fast zur letzten Seite kann man die Tragik zwischen den Zeilen nicht richtig einordnen und wird dann von ihr überrollt, dass einem die Luft zum Atmen wegbleibt. Dieses Buch muss man mindestens zweimal lesen, um es in seiner gesamten Komposition entsprechend würdigen zu können.