Rezension

Social Fantasy brutal und ehrlich - ein Highlight für mich

Roter Mond - Benjamin Percy

Roter Mond
von Benjamin Percy

Bewertet mit 5 Sternen

"Der Mensch ist eine mit Fehlern behaftete Schöpfung.
Jeder von uns hat seine Fehler, jeder."
Zitat S. 439

Zum Inhalt
 
Es gab drei terroristische Anschläge auf Passagierflugzeuge. Nur einer hat sie überlebt: der Teenager Patrick Gamble, Flug Nr. 373 nach Portland. Das Chaos, was sich dadurch ausbreitet ist unvorhersehbar - und unaufhaltsam.

Claire Forrester lebt in Nord-Wisconsin. Sie ist Lykanerin und ihre Eltern sind die ersten Opfer der Vergeltungsmaßnahmen. Sie ist auf der Flucht und das einzige, was ihr von ihren Eltern geblieben ist, ist ein verschlüsselter Brief ihres Vaters.

Auch Miriam ist Lykanerin. Sie hat sich zurückgezogen und von dem Widerstand losgesagt. Dem Widerstand, der sich mit Terroranschlägen der Unterdrückung der US-Nation widersetzen will.

Chase Williams ist Governeur von Oregon; sein Ziel die Präsidentschaftskandidatur. Durch die Anschläge kann sein Hass auf die Seuche der Lykaner die Amerikaner anschüren, sich endlich von diesem Geschwür zu befreien, dass sich in der Bevölkerung ausbreitet. Schon lange sind US-Soldaten in "der Republik" stationiert, dem einzigen Rückzugsort, in dem mehrere Millionen Lykaner leben - und in dem gleichzeitig das größte Uranvorkommen der Erde liegt.

Der Weg dieser vier völlig verschiedenen Personen verläuft in unterschiedlichen Richtungen und kreuzt sich in zufälligen und abwegigen Situationen - sie alle müssen sich dem unabwendbaren Schicksal fügen in einer Welt, die völlig aus der Bahn geworfen wird.

"Zwangsmedikation und Bluttests, schlechte Berufsaussichten, die Besetzung der Republik  durch amerikanische Truppen und die Pläne zur Einrichtung einer öffentlich zugänglichen  Datenbank mit den Namen aller registrierten Lykaner [...] "Falls die Regierung  unseren mehr als nachvollziehbaren Forderungen nicht nachkommt, sehen wir uns  gezwungen, weitere drastische Maßnahmen zu ergreifen. Der Terror wird nicht aufhören." S. 121

Meine Meinung

Bei Werwolfgeschichten bin ich immer ein bisschen skeptisch, aber da mich die "Wölfe von Mercy Falls" schon positiv überrascht haben und hier der Klappentext so mysteriös und eindringlich klang, war ich neugierig, was mich in dieser gesellschaftskritischen Geschichte erwartet. Ich war völlig unvorbereitet auf dieses bedrohliche und unverfälschte Weltbild und wusste bis zum Schluss nie, was mich auf der nächsten Seite erwartet.

Die Schreibweise ist gewöhnungsbedürftig. Im Präsens wird hier von Kapitel zu Kapitel aus der Sicht der verschiedenen Charaktere erzählt, was ein sehr intensives Leseerlebnis ermöglicht. Der Stil wirkt abgehackt, was aber den Lesefluss nicht stört sondern eher die Handlung kontinuierlich vorantreibt. Vor allem die ungewöhnlichen Metaphern und Satzkonstruktionen haben mich fasziniert. Die Cliffhanger an den Kapitelenden fesseln und es ist erschütternd, je mehr man die Zusammenhänge erkennt.
Die menschliche Geschichte wird hier neu aufbereitet, mit einer unwirklichen Komponente, die alles verändert – und irgendwie doch alles gleich bleiben lässt. Die erschreckenden Parallelen stechen durch den prosaischen Erzählstil noch mehr heraus und lassen viele Gedanken nachklingen.

"Dies ist nicht der Moment, unsere lykanischen Nachbarn unter Generalverdacht zu stellen, die in Frieden unter uns leben, registriert sind und überwacht werden, die ihre Medikamente nehmen und sich an die Gesetzte halten. Denken wir daran, dass nicht jeder Lykaner ein Extremist ist." S. 97

Jeder der Protagonisten vermittelt Authentizität; selbst die Nebenfiguren, auch wenn sie nur einen kurzen Eindruck hinterlassen, bleiben in prägnanter Erinnerung. Jeder von ihnen bestreitet seinen persönlichen Kampf oder versucht einfach nur, in dieser entfesselten Gesellschaft zu überleben. Sie alle verwickeln sich immer mehr in die außer Kontrolle geratenen Zustände, mit der einzigen Hoffnung, sich in dem Chaos nicht selbst zu verlieren.
Die Charaktere, aus deren Sicht die Handlung beschrieben wird, könnte man als willkürlich bezeichnen – es sind nur winzige Puzzleteile in einem großen, schrecklichen Bild, das der Autor mit seinen Worten gezeichnet hat. Ohne romantische Klischees, mit aufrichtiger Offenheit – real, düster und einer zunehmend beklemmenden Atmosphäre.

"Die ganze Welt ist zu einer Bedrohung geworden. Die ganze Welt trägt eine Maske." S. 164

Nach und nach entwickelt sich aus den verschiedenen Ereignissen der Blick auf das große Ganze. Der Autor schafft es, eine nüchterne und objektive Sicht zur Handlung beizubehalten, wobei die Brutalität und Eindringlichkeit der Erlebnisse oft erst im zweiten Moment zu mir durchdrangen – dafür aber umso intensiver. Schonungslos werden all die Facetten menschlicher Schwächen offenbart, die gerade deshalb umso menschlicher, aber auch schockierender sind.

"Aber wer verzweifelt genug ist, findet immer eine Rechtfertigung für sein Tun,  findet immer einen Sinn, wo keiner ist." S. 267

Fazit

Eine phantastische, apokalyptische Parabel inmitten unserer Wirklichkeit, die tief in unsere innere Gefühlswelt hinein – und weit darüber hinausgeht. Düster, fesselnd und greifbarer, als man es wahrhaben will.

© Aleshanee