Rezension

Informativ, interessant, spannend, lesenswert

Das Verschwinden der Erde
von Julia Phillips

Bewertet mit 4 Sternen

REZENSION – Nach mehrjähriger Arbeit an ihrem Debüt überraschte die Amerikanerin Julia Phillips (32) den US-Buchmarkt mit einem erstaunlichen Roman, der 2019 verdient in die Shortlist zum National Book Award kam, von der New York Times zu einem der zehn besten Romane des Jahres gekürt wurde und jetzt als „Das Verschwinden der Erde“ in deutscher Übersetzung im dtv-Verlag erschien. In einer in Episoden aufgebauten Handlung verarbeitete die Journalistin ihre Eindrücke, die sie in ihrem Forschungsjahr 2011/2012 und während eines zweiten Aufenthalts 2015 auf der Halbinsel Kamtschatka am äußersten Rand Russlands sammelte. Das Eindrucksvollste an ihrem Romandebüt ist die authentische Darstellung alltäglichen Lebens und so unterschiedlicher Gefühle der aus indigenen Volksangehörigen Nordostasiens und europäischen Russen zusammengewürfelten Einwohnerschaft einer selbst für Westrussen weit entfernten Region zu zeichnen.

Ausgangspunkt und Rahmen des Romans ist Entführung der Schwestern Aljona (12) und Sofija (8) in Petropawlowsk, der grauen, von sowjetischer Plattenbauweise geprägten Haupt- und Hafenstadt Kamtschatkas, zugleich Sitz wissenschaftlicher Einrichtungen zur Ozeanforschung, Fischereiwirtschaft und Vulkanologie. Trotz Einsatz der Polizei und eines Großaufgebots aus Einwohnern werden die Mädchen nicht gefunden. Später erfahren wir, dass drei Jahre zuvor in Esso, einem Dorf im Landesinneren mit überwiegend indigener Bevölkerung, die Jugendliche Lilja verschwand, wobei unklar bleibt, ob sie nicht nur dem tristen Dorfleben entflohen ist.

In einem wegen ständig wechselnder Personen nur anfangs irritierenden Konstrukt aus 13 Episoden lernen wir nach und nach jene Menschen kennen, die direkt oder indirekt vom Verschwinden der Mädchen betroffen sind. Durch Schilderung der sich unterscheidenden, jeweils subjektiven Sicht der wechselnden Protagonistinnen auf den Entführungsfall und die heutige gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Situation des Landes gelingt es der Autorin eindrucksvoll, die Vielschichtigkeit Kamtschatkas drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu beschreiben, sondern uns zugleich einen Einblick in die Gegensätzlichkeit zwischen großstädtischem, russisch geprägtem Leben und dem Leben der Ureinwohner im Landesinneren Kamtschatkas, zwischen billigem Plattenbau und naturbelassener Wildnis im Landesinneren der Halbinsel aufzuzeigen. Wir erfahren von Konflikten zwischen den Alten, die im Zusammenbruch der Sowjetunion noch immer ein großes Unglück sehen und Angst vor Neuem haben, und den Jungen, die ihre neue Freiheit auskosten und hinaus in die weite Welt wollen. Erwähnt werden auch die vielen Schwachpunkte wie die Korruption im Beamtenapparat, die wirtschaftliche Misere oder die russische Intervention in der Ukraine. Wir lesen auch von gegenseitigem Misstrauen, sogar Rassismus zwischen der „weißen“ Bevölkerungsmehrheit der Russen und den indigenen Bevölkerungsgruppen wie den Ewenen.

Mit seinem episodenhaften Aufbau und den verschiedenen Sichtweisen wechselnder Protagonisten vermittelt uns die Autorin in einfühlsamer, aber klarer Sprache, verpackt in einer kurzweiligen Handlung, ein umfassendes und informatives Bild eines für deutsche Leser noch unbekannten russischen Landesteils, dessen größtenteils als Naturpark ausgewiesene Vulkanregion im Jahr 1996 von der Unesco zum Weltnaturerbe erklärt wurde. Genau dies macht den Roman so interessant und lesenswert.