Rezension

Intensive und dichte Gesellschaftsstudie

Das Verschwinden der Erde
von Julia Phillips

Bewertet mit 4 Sternen

Im August verschwinden die russischen Golosowskaja-Schwestern aus der Bezirkshauptstadt Petropawlosk auf Kamtschatka. Viele Vermutungen und haltlose Schuldzuweisungen heizen die Gemüter der Stadtbewohner auf. Kinder dürfen nicht mehr allein auf die Straße gehen, indigene Mitbürger werden kritisch beäugt. Je mehr Einzelbetrachtungen aus unterschiedlichen Perspektiven getroffen werden, desto mehr verbinden sich lose Fäden zu einem Bild.

Julia Phillips hat für ihren Debütroman Jahre bis zur Fertigstellung benötigt. Die darin zugrundliegende Detailarbeit ist deutlich spürbar. Ein sehr feiner emotionaler Schreibstil gibt Beobachtungen über 12 Frauen aus unterschiedlichen Regionen und Gemeinschaften im post-sowjetischen Kamtschatka wieder. Als Rahmenhandlung verbindet alle die Entführung der russischen Geschwister Aljona 11 Jahre alt und Sofija 8 Jahre alt, aus Petropawlowsk. Jedes Kapitel beginnt mit einem Monat, bis ein Jahr vorbei ist und das Buch im Juli endet. Jeder Monat ist einer weiteren Frauenfigur gewidmet, wird mit den bisherigen verwoben und führt ein Stück weit mehr zur Aufklärung des Verbrechens bei. Viele Personen tauchen am Rand erneut auf oder begegnen sich.

Dies ist ein Roman, auf den man sich einlassen muss. Bei mir hat es etwas gebraucht, ein Gefühl für die Stimmung und die Besonderheiten der Personen zu bekommen. Von Kamtschatka habe ich vorher so gut wie nichts gewusst. Aber genau dafür wirbt dieser Roman: Setz dich mit den Menschen und ihrer Situation auseinander.

Die gesellschaftlichen Probleme nach der Auflösung der Sowjetunion zwischen Russen und Indigenen wird gut herausgearbeitet. Allen Personen ist anzumerken, dass sie auf der Suche nach sich selbst sind. Eine Zugehörigkeit ist ihnen abhandengekommen. Besonders stark ist es bei Ksjuscha zu spüren, einer Studentin in der Hauptstadt, deren Familie Rentiere in Esso züchtet und nur in den Wintermonaten an einem Ort lebt. Das urwüchsige Wilde der Tundra fehlt ihr in der Stadt, sie fühlt sich fremd. Erst als sie einer traditionellen Tanzgruppe beitritt, fühlt sie sich aufgehoben.

Immer wieder wird die Stadt oder die Gesellschaft als unheilvoll, gefährlich und düster dargestellt. Die Menschen fühlen sich nicht wohl oder sind einsam. Halt finden sie in der Natur und in ihren Traditionen. Katja, eine Zollbeamtin, fasst es zusammen:

"Sie war schon als Kind in diesen Wäldern gewesen, und obwohl sie inzwischen zwei Jahrzehnte Wachstum hinter sich hatten, sahen die Birken im Licht der Sterne immer noch so aus wie damals, als sie ein kleines Mädchen gewesen war: alt, eindrucksvoll und voller Magie. Die Welt da draußen hatte sich immer stärker verändert, war unberechenbarer und gefährlicher geworden, doch Orte wie dieser waren geschützt."

Die fast schon verloren gegangene Rahmenhandlung der verschollenen Schwestern wird am Ende wieder aufgenommen. Der letzte lose Faden wird verwoben, die Personen rücken näher aneinander, um dann doch ein offenes Ende mit Raum für eigene Vorstellungen des Lesers zu lassen.

Mich hat dieser Roman erst im Nachhinein in seinen Bann gezogen. Tatsächlich habe ich noch einige Tage danach immer wieder an Szenen denken müssen. Die Vielschichtigkeit und Dichte musste bei mir etwas nachwirken. Letztendlich gebe ich aber sehr gern eine Leseempfehlung.