Rezension

Ein wenig Leben

Das Verschwinden der Erde
von Julia Phillips

Bewertet mit 4 Sternen

Ganz mulmig wird mir, als Aljona und Sofija sich so mutterseelenallein den Nachmittag am Strand vertreiben. In meiner Umgebung undenkbar, dass eine elfjährige und ihre achtjährige Schwester unbeaufsichtigt durch ihre Heimatstadt und Umgebung stromern dürften. Glaube ich zumindest. Auch in Petropawlowsk sind einige Mütter entsetzt, dass die Mädchen die ganzen Sommerferien allein ohne ihre alleinerziehende, arbeitende Mutter verbringen müssen. Das hat diese nun davon. Am helllichten Tag sind die Mädchen verschwunden. Jede Suche ergebnislos. Alle gehen vom Schlimmsten aus. Und ob die Zeugin mit dem Hund, die einen Mann mit den Kindern in einen großen, dunklen, sauberen Wagen hat einsteigen sehn, wirklich glaubwürdig sei, daran scheiden sich bei der Polizei die Geister. Nun immerhin hier bin ich den Bewohnern der Halbinsel Kamtschatka eine Erzähllänge voraus, denn Julia Phillips lässt mich zu Beginn ihres Romans unmittelbar teilhaben an der Entführung der beiden Schwestern durch einen unbekannten Mann, zumindest bis das Auto mit den Kindern im Hinterland verschwindet. Dann bleibe ich wie alle anderen in Kamtschatka mit dieser nagenden Ungewissheit zurück. Was ist mit Aljona und Sofija passiert?

Bevor die Geschichte losgeht, folgt auf den ersten Seiten ein Überblick über die Hauptpersonen. Brauch ich nicht, denk ich mir. Ich habe bei Krieg und Frieden nicht den Überblick über die Figuren verloren, da wird das wohl hier auf diesen im Vergleich läppischen 370 Seiten auch kein Problem werden. Aber man sollte den Autoren vertrauen. Phillips Erzählweise ist moderner als Tolstois, sie nimmt die Frauen in den Blick und lässt im Jahresverlauf aus der Perspektive ganz unterschiedlicher weiblicher Figuren eine Momentaufnahme ihres jeweiligen Lebens und Innenlebens erzählen. Monat für Monat verstreicht und das Verschwinden der Mädchen nimmt auch Einfluss auf die Leben der erzählenden Frauen. Ganz unterschiedlich und auf den ersten Blick losgelöst voneinander. Doch sie sind alle miteinander verbunden, zumindest für mich als Leserin wird das nach und nach klar, den Frauen nicht unbedingt.

Julia Phillips kluger, wohldurchdachter Erzählansatz nimmt mich total in seinen Bann. Diese zwölf Monate, diese so unterschiedlichen Leben, diese Frauen, die alle auf ihre jeweilige Art und Weise leben, lieben und leiden – das ist richtig großartiges Erzählen. Es wird an diesen ausgewählten Charakteren offenbar, dass sich ein Riss durch die Gesellschaft auf dieser besonderen Halbinsel zieht, eigentlich sogar mehrere. Es herrscht ein großes Ungleichgewicht zwischen den Männern und den Frauen, zwischen den Ureinwohnern und den Russen, der traditionellen Lebensweise und der städtischen, dem Norden und dem Süden, der gestrigen Sowjetunion und dem heutigen Russland. Glück und Unglück ist jedes für sich relativ, Wohlstand auf unterschiedliche Arten messbar und am ehesten in Moskau oder Petersburg zu finden. Kamtschatka ist bezaubernd und brutal zugleich, eine Insel am Rande der Welt mit eigenen Gesetzmäßigkeiten sowohl in seinen natürlichen als auch menschlichen Gegebenheiten.