Rezension

Ein Vielvölker-Staat im Umbruch - und wie besonders Frauen davon betroffen sind

Das Verschwinden der Erde
von Julia Phillips

Bewertet mit 5 Sternen

Weil ihre Mutter arbeiten muss und die Kinder sich allein überlassen sind, steigen an einem kühlen Sommerferientag die Schwestern Sofija und Aljona zu einem Fremden ins Auto und werden nicht wieder gefunden. Aljona konnte sich mit einer jüngeren Schwester nicht bei Gleichaltrigen sehen lassen und so zogen die Mädchen gemeinsam an den Meeressaum. Die Ältere erzählt von einer ganzen Stadt, die nach dem Großen Vaterländischen Krieg hier auf der Halbinsel Kamtschatka bei einem Erdbeben verschwand. Bis heute ist es für die Mädchen und die Mutter ein unheimliches Gefühl, im Freien keinen Schutz vor Erdbeben suchen zu können. Aus Aljonas Mund klingen die Geschichten wie Märchen. In der Realität ist die Region von Petropawlowsk nach dem Abzug des russischen Militärs jedoch eine nüchterne Stadt, in der unter vielen Russen nur noch wenige Nachkommen der Ureinwohner leben.

Das Verschwinden der Schwestern (schon der zweite Fall in kurzer Zeit) belastet die ganze Region, besonders trifft es jedoch die Frauen. Besorgte Eltern ziehen die Zügel für ihre Töchter buchstäblich straff an und kontrollieren sie strenger als zuvor. Nicht beaufsichtigte Kinder gelten schnell als verwahrlost. Die Ermittlungen der Polizei wirken jedoch gleichgültig; als wäre nach dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion eine moralische Leere in der Region entstanden.

In zwölf Kapiteln erzählt eine empathische, leicht ironische Stimme, wie im Laufe eines Jahres das Verschwinden aller drei Mädchen außer den Müttern und den ermittelnden Polizisten mehrere Familien betrifft. Der Fall hat den unterschwellig spürbaren Konflikt zwischen Ureinwohnern der Halbinsel und russischen Zuzüglern eskalieren lassen. Korjaken, Itelmenen und Ewenen machen nur noch wenige Prozent der Bevölkerung aus, die Mehrheit sind Russen. Wie lange die Hirtenvölker  der Tundra noch nach  ihren Traditionen leben können, ist fraglich. Max, der mit zur Suchmannschaft für die Vermissten gehörte, sinnt noch heute darüber nach, wie jemand unbemerkt zwei Kinder aus der Stadt gebracht haben könnte. Die Studentinnen Alisa und Ksjuscha haben einen engen Bezug zur Natur und sind auf der Suche nach ihren kulturellen Wurzeln.  Für Ksjuscha als Tochter von Viehzüchtern in der Tundra  bedeutet das Verschwinden der Mädchen verstärkten Druck ihrer Angehörigen, weil sie durch ihr indigenes Äußeres besonders auffällig sein soll. Zwischen Tradition und Selbstständigkeit wird sie sich nur schwer entscheiden  können.

Der ungelöste Fall dient Julia Philipps, die selbst in Russland gelebt hat, als Rahmen, um die Situation der Frauen in einer ehemaligen Vielvölkergesellschaft zu betrachten. Fremde und deren Werte dominieren den Alltag, während die Nachkommen der Ureinwohner sich an den Rand gedrängt fühlen.

Dass die zahlreichen Figuren Vornamen, Vatersnamen und Spitznamen tragen, macht das Personenverzeichnis zu einem wichtigen Teil des Romans. Der ungelöste Vermisstenfall klingt zunächst nach einem sozialkritischen Krimi vor exotischer Kulisse. Insgesamt ist Julia Philipps ein ungewöhnlich empathisches Buch mit glaubwürdigen Figuren gelungen, stets auf der Seite von Frauen und Mädchen.