Rezension

Grandios - Ergreifend - Wahrscheinlich mein Jahreshighlight

Das Verschwinden der Erde
von Julia Phillips

Kamtschatka - Verschwundene Mädchen - Exotische Welt - Sibirien - Zusammenbruch der Sowjetunion - Diskriminierung von Ureinwohnern - Benachteiligung von Frauen - verlorene Träume - Schicksalsergebenheit - Kraft finden in der Realität - grandiose Natur - Familienprobleme - Kaleidoskop - wundervolles Debüt

Dieser Roman (nein - ein Thriller ist es nicht - obwohl das leider auf dem Umschlag steht) spielt in einer sehr exotischen Gegend. Auf Kamtschatka, dieser riesigen Halbinsel, die ganz im Osten von Sibirien ins Meer ragt. Erreichbar nur per Flugzeug oder Schiff, eine Straßen- oder Eisenbahnverbindung zum Rest vom russischen Festland gibt es nicht. Erst seit 1991 ist Kamtschatka für die Öffentlichkeit zugänglich - vorher war es militärisches Sperrgebiet. Auf der Halbinsel wohnen inzwischen mehrheitlich Russen, die Bevölkerungsdichte ist niedrig und die verschiedenen Stämme an Ureinwohnern sind nur auf dem Papier gleichberechtigt.

Dieser Roman gibt einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe eine Stimme - den Frauen. Denn obwohl Frauen auf dem Papier gleichberechtigt und auch gut ausgebildet sind, fällt es ihnen doch schwer, sich in der streng patriarchalischen Gesellschaft zu behaupten. Dies wird in diesem als Kaleidoskop angelegten Roman deutlich, der den Verlauf eines Jahres beschreibt, von August bis Juli, jeder Monat aus Sicht einer anderen Frau. Mögen die Geschichten am Anfang noch zusammenhanglos wirken, so zeigt sich im Laufe der Zeit, dass es doch Zusammenhänge gibt. Oft nur mittelbare - manchmal auch unmittelbare.

Zusammengehalten wird die Geschichte durch einen Kriminalfall. Zwei kleine russische Mädchen verschwinden im August in der Hauptstadt. Und sie tauchen nicht wieder auf. Das hat Auswirkungen auf viele Menschen. Zum Beispiel auf die einzige Augenzeugin, die die Mädchen in ein Auto steigen sah. Als man aber das Auto und die Mädchen nicht findet, zweifeln alle an ihrem Verstand - sie selbst nachher auch. Da ist die Ureinwohnerin, deren Tochter vorher schon verschwand. Aber sie war schon 18 - und es wurde nicht von der Polizei nach ihr gesucht. Dann sind da diverse junge Frauen, die durch das Verschwinden der Mädchen noch mehr kontrolliert und behütet werden und noch mehr von ihrer Freiheit verlieren. Da sind aber auch andere Frauen, die zwar nur mittelbar betroffen sind - aber auch große Verluste zu verarbeiten haben. Und das ist wohl das Thema des Buches: Verlust.

Der Verlust der Kindheit, der Eigenständigkeit, der Träume, der unberührten Natur, der Liebe....

Erzählt wird dies alles in einer sehr klaren, kraftvollen, perfekt auf den Inhalt abgestimmten Sprache. Den Übersetzer*innen ist hier sicherlich auch viel zu verdanken!

Die Autorin hat wohl insgesamt 10 Jahre an dem Roman gearbeitet und war selbst lange auf Kamtschatka. Das merkt man. Sie beschreibt diesen weit entfernten, gleichzeitig exotischen und doch manchmal so trostlosen Landstrich sehr eindringlich. Auch die grandiose Natur wird gewürdigt.

Der gesamte Roman ist perfekt komponiert - wie ein Musikstück, dass eine perfekte Melodie hat - ohne Kitsch - aber sehr ergreifend.

Für mich ein grandioses Buch. Ich war gefesselt, ich fand es spannend. Auch wenn es kein klassischer Krimi ist - obwohl es um einen Kriminalfall geht. Ich liebe Romane, die als Kaleidoskop geschrieben sind und ich bin tief eingetaucht in eine Gesellschaft, in der ich sicherlich nicht leben will - die mir aber nahe gekommen ist. In all ihrer Unvollkommenheit - Unfertigkeit - Ungerechtigkeit.