Rezension

Eine Geschichte wie ein Kaleidoskop

Das Verschwinden der Erde
von Julia Phillips

Immer wieder sorgen Verschiebungen der Perspektiven für überraschende Geschichten, bis sich am Ende alles zusammenfügt.

An der Küste Kamtschatkas lassen sich Aljona und Sofia an einem sonnigen Nachmittag von einem Fremden überreden, in sein Auto zu steigen. Seitdem fehlt von den Schwestern jede Spur. 

Julia Phillips entführt ihre Leser in eines der entlegensten Gebiete der ehemaligen Sowjetunion. Ureinwohner und Russen versuchen ein Miteinander, in dem Misstrauen und Vorurteile viel zu viel Raum einnehmen. Sprachen und Gebräuche, auch die Herausforderungen der Natur bereichern beiläufig und doch prägend das gesamte Geschehen.

Ausgehend vom August wird für ein ganzes Jahr Monat um Monat eine andere Person in den Fokus gerückt. Ganz dicht gerät man an die Menschen heran und spürt gleichzeitig eine unüberbrückbare Distanz. Zu sezierend ist der Blick. 

Zunächst sucht man im Laufe der Begegnungen vergeblich nach dem Kontext, überlässt sich schließlich den eindringlichen Schilderungen unterschiedlichster Lebenssituationen. Meist sind es Frauen, die im Mittelpunkt stehen. Die sich im Geflecht ihrer Beziehungen verhalten und erklären. Gegen ihre Verzweiflung und um ihre Träume kämpfen, Stärken und Schwächen offenbaren. Dann, nachdem sich die Perspektive wieder einmal verschoben hat, erscheinen bereits bekannte Figuren in anderen Kontexten und zeigen neue Facetten, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. 

Hier dreht sich ein gigantisches Kaleidoskop von bunten Geschichten um dieselben Betroffenen und die durchgängige Frage nach dem Schicksal der Mädchen und verursacht von Seite zu Seite großartige und überraschende Bilder. 

Das Cover ist so schön wie verunsichernd: Die hochaufgetürmten blauen Berge, in die sich die Schwestern zu verlieren drohen, erinnern an aufgewühltes Meer. Das ist so wenig zufällig wie der scheinbar rätselhafte Titel.

Am Ende fügt sich alles zusammen. Genial konzipiert, mit Genuss zu lesen. Ganz sicher ist der Roman eine literarische Kostbarkeit. Ein Thriller jedoch, wie auf im Zitat auf der Rückseite angegeben wird, ist er nicht. Leser*innen, die hier mit falschen Erwartungen einsteigen, werden möglicherweise enttäuscht sein.