Rezension

Dicht, düster, hochspannend

Unter Wasser Nacht -

Unter Wasser Nacht
von Kristina Hauff

Bewertet mit 4.5 Sternen

Thies hört schon vom Elbe-Ufer aus, wie sich die Fähre dem Anleger nähert. An Bord ist eine Fremde, die sich bald nach ihrer Ankunft im Ort bewegen wird, als hätte sie immer hier gelebt und die als Katalysator gewaltiger Veränderungen wirken wird. Das Wendland wirkte zur Zeit der deutschen Teilung wie das Ende der Welt, an dem sich nur schwer ein Lebensunterhalt verdienen ließ. Thies hat hier einen alten Bauernhof mit Grundstück und Nebengebäuden gekauft und wollte gemeinsam mit seiner Frau Sophie und den Freunden Inga und Bodo ein alternatives Lebensmodell verwirklichen. Mit Ausnahme von Sophie hatten alle WG-Erfahrung und wollten in den 80ern die Kleinfamilie als Lebensform überwinden. Ihr Lebensmodell zeigt jedoch erste Risse, als Thies und Sophie sehr lange auf ihr Wunschkind warten und zugleich direkt vor ihrem Küchenfenster das Glück des anderen Paars miterleben müssen.

Das Wunschkind Aaron wird die gemeinsame Idylle sprengen, weil er verhaltensauffällig ist und sich offenbar niemand um eine Therapie für ihn bemüht. Zwei Jahre zuvor ist Aaron unter ungeklärten Umständen in der Elbe ertrunken. In einer Situation, in der Haustüren den Nachbarn immer offen stehen (und wehe, wenn nicht), wenn man voneinander jeden Pieps mitbekommt und mancher glaubt, alles beurteilen zu dürfen, soll dort tatsächlich niemand Aarons Todesumstände mitbekommen haben? Mara, die Fremde, um einige Jahre älter als die beiden Paare, ist angeblich im Ort, um eine Person zu suchen, der sie eine Nachricht ihrer verstorbenen Mutter überbringen will. In der kleinen, überschaubaren Welt des niedersächsischen Orts wirkt Maras Präsenz beinahe unheimlich; ihr scheinen die Herzen leicht zuzufliegen. Sie freundet sich blitzschnell mit Inga an, wird Ingas Tochter Jella zur unentbehrlichen Vertrauten und heizt damit Sophies Trauer und Eifersucht weiter ein. Mehrere unbeantwortete Fragen führen offenbar direkt in die Katastrophe: Wie starb Aaron, welche Verbindungen bestehen zwischen Mara und dem Ort – und können die Verletzungen der Beteiligten je heilen?

Kristina Hauff hat schon mit dem ersten Kapitel hohe Erwartungen bei mir geweckt. Vor dem historischen Hintergrund der Gorleben-Proteste (ab 1979) entwickelt sie Figuren, die tief mit der Flusslandschaft verbunden zu sein scheinen und die einmal aufrichtig für neue Lebensformen brannten. Am Fluss laufen alle Fäden zusammen. Die Flussaue bei Gorleben, früher ein Abschnitt der deutsch-deutsche Grenze, habe ich fast wie eine handelnde Person erlebt.

Mit wechselndem Focus lernt man in kurzen Kapiteln zuerst Thies, Sophie und Inga kennen, mit den Kindern der beiden Paare, Mara und der Fährfrau Edith (Ingas Mutter) erweitert sich der Blick auf weitere Personen und auf Maras Vorgeschichte. Die Autorin erzählt von sozialer Kontrolle in der Provinz und von Konflikten, die deshalb zunächst unlösbar scheinen. In kurzen Kapiteln und kurzen Sätzen entsteht eine dichte, düstere und dabei hochspannende Handlung. Meine hohen Erwartungen wurden übertroffen – "Unter Wasser Nacht" wird in diesem Jahr eines meiner Lieblingsbücher sein.