Rezension

Lesenswert

Das Flüstern der Bäume - Michael Christie

Das Flüstern der Bäume
von Michael Christie

Bewertet mit 3.5 Sternen

Zufluchtsort Wald...im Schwinden begriffen

Vier Generationen. Einhundertdreißig Jahre einer Familien- und Zeitgeschichte, die sich wie Ringe im Inneren eines Baumstamms durch die Jahre 1908-2038 zieht. Aufgrund der Ereignisse markant und auch als Kapitelüberschriften fungierend sind hierbei die Jahre: 1908, 1934, 1974, 2008 und 2038. Zeitliche Forecasts schließen sich an Rückblenden an und umgekehrt. Der Roman beginnt im Jahr 2038 und endet auch dort, der Kreis schließt sich.

Die Protagonistin Jake siedelt 2013 im zarten Alter von 8 Jahren von den USA nach Indien über, wo sie bei den Großeltern mütterlicherseits aufwächst. Ein Baum wird ihr erster Spielkamerad und so nährt sich ihre Leidenschaft, die sie nie wieder loslassen wird. Sie promoviert und aufgrund ihrer Studienschulden nimmt sie einen Waldführerjob auf Greenwood Island an (...)

Da ist die Familie väterlicherseits, Uropa Harris Greenwood (1899-1974), der an einem Hirntumor stirbt oder aber Suizid beging, und die Haushälterin Euphemia (Bed. Euphemia 'die mit dem guten Ruf') Baxter, die sich kurz nach Oma Willows Geburt (1934) vermutlich das Leben nahm. Oma Willow (dt. 'Weide') (1934-2008), eine Umweltaktivistin und Baumkämpferin, stirbt an Lungenkrebs. Wahrscheinlich ist Sage, nur eine ihrer Vermutungen, der Vater von Sohn Liam (1974-2008). Auch dessen Frau Meena stirbt an Lungenkrebs (2013). [Hier gibt es allerdings Ungereimtheiten oder die Fakten waren zu dicht und wurden missverstanden, da Jake berichtet, ihre Mutter wäre bei einem Zugunglück ums Leben gekommen, als sie 8 Jahre alt war]. Sie sind Eltern der Protagonistin Jacinda, genannt Jake (2005), eine Waldführerin auf der Insel Greenwood Island, die im Jahr 2038 nach einer Affäre mit dem reichen Pilger Corbyn selbst Mutter wird. Und dann ist da noch Everett (1899-2008), obwohl diese damalige Langlebigkeit leichte Zweifel aufkommen lässt), Jakes Onkel und Harris Nenn-Bruder. Harris und Everett werden im Jahr 1908 mit gerade einmal 9 Jahren, Vollwaisen und bei einem Zugunglück auf die Schienen geschleudert. Sie wachsen mehr oder minder sich selbst überlassen im Wald auf, doch ihre Schicksale verlaufen gegensätzlich. Harris mausert sich zu einem Holzmagnaten, während Everett als vermeintlich ungebildeter Holzfäller und Landstreicher durch die Gegend streift. 1934 findet er im Wald einen an einen Nagel aufgehängten Säugling. Es ist Willow. Vermutlich ist sie in Wirklichkeit die Tochter von J.R. Holt und Euphemia Baxter. Die ganze Story rankt sich um eben diese Generationen und Familienmitglieder, entwurzelt und dennoch mitteinander durch eine Geschichte verbunden wie Bäume im Wald und das Tagebuch von Euphemia Baxter, das Jakes Exfreund Silas der Protagonistin Jake überreicht.

Das Thema Bäume und Wald bewog mich gleichermaßen dazu, diesen Roman zu lesen wie die reizvolle Vita des Autoren: Er studierte Psychologie und arbeitete in der Obdachlosenhilfe, eine dem Inhalt des Romans angemessene und fruchtbringende Mischung. Heute lebt er mit seiner Familie in einem selbst gezimmerten Holzhaus.

Nicht nur der Titel, auch die Thematik und die Struktur des 2019 in Deutschland erschienenen Werks, erinnert sehr stark an Lundes Roman 'Die Geschichte der Bienen', der 2018 in Deutschland erschien. Christie gibt in der Danksagung unumwunden zu, dass er sich von vielen Büchern hat inspirieren lassen, allerdings vorwiegend aus den Bereichen Bäume und Wald.

Der Familienname Greenwood ist genauso emblematisch wie der Name des Ortes Greenwood Island, die scheinbare Insel der glückseligen Bäume, ein Zufluchtsort.

Die Handlung beginnt 2038. Die Städte ersticken am Staub der Welt (13). Pilger entfliehen in die Wälder auf Greenwood Island, in einen der letzten verbliebenen Primarwälder der Erde. 2038 ist aus heutiger Sicht zeitlich gar nicht so weit entfernt und das Buch ist thematisch aktueller denn je. Einer der dort gewachsenen Tannen kann den Sauerstoffbedarf von vier Erwachsenen decken. Pilz und Insektenbefall, auch im Jahr 2022 schon lange akut, haben die Wälder vor zehn Jahren getötet. Die meisten Bücher sind eingestampft worden, um Holzfasern für unentbehrliche Dinge wie Staubmasken, Luftfilter und Geldscheine zu gewinnen (40). Eine Horrorvorstellung für jeden Leser und Autoren.

Familie und Waisentum sind Leitmotive. Denn sowohl Harris und Everett als auch Jake sind Waisen. Aus dem Garten Eden Vertriebene. Zurückgelassene. 'Kleine Flecke Leben im tosenden Meer des Seins (123)'. Auch Alkohol und Drogen kommen in dem Roman nicht zu kurz, Erfahrungen, die Christie im Rahmen seiner Sozialarbeit von der Realität in die Fiktion trägt. Es wird irgendwie ständig geraucht oder sich etwas eingeworfen. Schön, wie dabei sprachlich auch auf die Waldmetaphorik zurückgegriffen wird: '(…) kippt Liam in die Abwärtsspirale einer zügellosen Abhängigkeit, die sich wie ein WALDBRAND durch seine verbliebenen Ersparnisse frisst (76)'.

Weitere Themen sind Zufall ('Wir wissen, dass es mit diesen Greenwood-Jungen ebenso gut anders hätte kommen können (290)', Schicksal, Existenzkampf, Epigenetik 'Je betrunkener er wird, desto stärker wird ihm bewusst, dass seine Mutter IHR LEBEN LANG vor einer Gebrochenheit geflohen ist, einer Gebrochenheit, die von den gebrochenen Menschen vor ihr an sie weitergegeben wurde, und dass sie etwas von dieser Gebrochenheit an ihn weitergegeben hat, wie Kohlen, die man einem Feuer nimmt, um ein weiteres zu entfachen. Und dass er mit seinem eigenen Kind dasselbe tun würde (…) (499)'.

Es sind die Kinder, die uns immer weiter machen lassen. Die Kinder, die immer noch geboren werden. Es ist traurig wie aktuell dieses Buch ist, wenn Jake einen inneren Monolog führt und sich dabei an ihr gerade geborenes Kind wendet: 'Ich habe im Leben gearbeitet, gearbeitet, gearbeitet, habe es doch zu nichts gebracht (…). Aber in irgendeiner Weise hast du mir Hoffnung gegeben. Vielleicht weil sich die Welt mit dir so viel reicher anfühlt. Auch wenn DU es bist, NICHT ich, die der Trostlosigkeit der Zukunft begegnen muss. Einer Zukunft, die nicht länger besser ist als die Vergangenheit. Also bitte ich dich mit diesen Zeilen wohl auch um Verzeihung (556)'.

Dieser Roman ist sicher lesenswert für Menschen, die Familiensagen, eine metaphorische Sprache, Gesellschaftskritik und Umweltkritik mögen, die sich gern mit existentiellen menschlichen Fragen beschäftigen, mit dem lebenslangen, sisyphusartigen Kampf, den wir so alle ausführen, weil uns nie einer gefragt hat, ob wir geboren werden wollen und keiner geahnt hat, auf welche Eisberge unser Schiff Erde in den 2022igern mit Höchsttempo zusteuern würde.Wäre es nur ein Eisberg, aber es sind derer so viele. Viel zu viele. Da hilft auch ausgeklüngelte Schiffsbautechnik der letzten Generation nicht mehr weiter. Es ist eine Frage der human resources, des Schiffspersonals, ihrer Einstellung und ihres Willens zu handeln. Endlich.

4 Sterne gibt es: weil das Vor und Zurück in der Zeit zunächst anstrengend war, einige Progratogonisten zu spät vorgestellt wurden und ich mir mehr Know How über unseren Freund, den Baum, gewünscht hätte