Witzig, aber nicht überraschend
Bewertet mit 4 Sternen
„Every“ setzt „The Circle“ fort – die Heldin dieses Sequels ist Delaney Wells, die sich von Every anstellen lässt. Every ist die Verschmelzung von Apple, Google, Facebook und Amazon und hat Zugriff auf sämtliche Daten, die in einem Menschenleben entstehen können. Delaney wird ein Everybody, um das System von innen zu sprengen. Sie und ihr nerdiger Freund Wes lassen sich Apps einfallen, jede absurder als die vorige, in der Erwartung, dass die Welt schreit „Genug ist genug“ und den Konzern ein für alle Mal zerschlägt.
Das passiert nicht, im Gegenteil, alle sind begeistert und die Datendiktatur wird immer schlimmer. Denn kann man gegen etwas sein, dessen erklärte Intention gut ist? Es ist so beruhigend, wenn einem alle Entscheidungen abgenommen werden und man sicher sein kann, immer das Richtige zu tun, zu sagen und zu denken. Die Komik und Tragik des Romans besteht darin, dass Delaney nicht an der Perfidie des Konzerns scheitert, sondern an der Bequemlichkeit ihrer Mitmenschen. Man kann das schwerlich überraschend finden. Facebook ist DAS BÖSE – wissen wir spätestens, seit Frances Haugan ausgepackt hat. Und einige der skandalösen Apps aus seinem Roman gibt es schon. Kein Wunder, dass Eggers Mühe hat, der Realität mit seiner Dystopie voraus zu sein.
Die neuen Medien verändern unsere Kultur – und den Menschen. Ganz eigentlich bringen sie den urzeitlichen Menschen wieder zum Vorschein. Der ist so gepolt, dass er immer den Weg des geringsten Energieverbrauchs geht – gute Sache für Jäger und Sammler. Weniger gut für die Staatsbürger einer Demokratie. Auch das ist keine Offenbarung. Kann nur eine Öko-Diktatur die Welt retten? Darüber ließe sich diskutieren.
Habe ich aus Eggers Roman für mich etwas Neues gelernt? Nicht wirklich. Der Roman wirkt eher bestätigend. Dennoch hat mich die Lektüre nicht gelangweilt, im Gegenteil. Das liegt daran, dass Eggers einfach super süffig schreibt – er kann Dialoge, er weiß, wann etwas passieren muss und vor allem: Er kann Satire. Ich habe oft geschmunzelt über seine witzigen Ideen. So über den medienkritischen Präsidentschaftskandidaten, der an den alles offenbarenden hautengen Lycra Suits der Everybodys scheitert: die Eye Tracking App entlarvt ihn als Lüstling, diese Analyse geht viral, und das war´s mit seiner Kandidatur im prüden Amerika. Nicht so gut: seine Figuren leiden nicht an einem Übermaß an Tiefe. Da war Der Circle besser.
Übrigens wird der Roman in den USA nicht über Amazon vertrieben. Eggers verkauft das Hardcover ausschließlich über unabhängige Buchhandlungen, ein organisatorischer Kraftakt, wie er in einem Interview sagte. Erst ab dem 16. November kann man über Amazon eine Paperback-Version erwerben. Nettes Statement, gilt aber offenbar nur für die USA. Hier in Deutschland sind alle Versionen über Amazon erhältlich.
Insgesamt würde ich sagen: Kann man lesen, muss man aber nicht.
Kommentare
wandagreen kommentierte am 12. November 2021 um 10:25
Na ja, was MUSS man schon lesen? Vor allem, wenn man unsympathische Protagonisten hat und das Buch über 250 Seiten lang ist und die Protas gar Unerwartetes sagen oder gar unerwartet handeln. Ich lese erst wieder, wenn nicht nur die ganzen rassistischen Ausdrücke ausradiert wurden, sondern auch alle Unsympathen, Kriminellen und Korrupten durch nette Menschen ersetzt worden sind. Hätte man Every nicht durch Leserentscheid kürzen müssen? *wandabananenkauendnachdenkt*.