Rezension

Ein Koma ist genug - Warum Belarus 2020 erwachte

Der ehemalige Sohn -

Der ehemalige Sohn
von Sasha Filipenko

Bewertet mit 4 Sternen

"Bestandsaufnahme" der politischen Lage in Belarus, verwoben mit dem Schicksal von Franzisk und seiner einzigartigen Baba. Lesenswert.

Sasha Filipenko fängt offenbar die politische Lage in seiner Heimat Belarus ein und beschönigt nichts. Als 2020 hunderttausend Menschen in Minsk auf die Straße gingen, war das Buch allerdings schon einige Jahre alt. Es wurde von der Gegenwart eingeholt.

Franzisk, 16 Jahre alt und vaterlos, wird vor allem von seiner Großmutter Elvira erzogen, die sich ein freies Leben für ihn wünscht. Als berühmter Musiker soll er um die ganze Welt reisen können. Diese Träume werden jäh zerstört, als Zisk ins Koma fällt. Die Ärzte geben ihn schnell auf, nur seine Großmutter glaubt fest daran, dass er wieder aufwachen wird. Jahr um Jahr vergeht, aber schließlich, durch ein neuerliches Drama ausgelöst, erwacht Zisk nach zehn langen Jahren. Sein Land muss sich stark verändert haben oder doch nicht?

Filipenkos Buch ist voller Anspielungen und Metaphern, aber auch voller direkter Kritik am politischen System seines Landes. Geschichtsfälschung, Verbot der Heimatsprache, Wahlbetrug, polizeiliche Willkür, Einschüchterungen, Verhaftungen, nichts wird ausgelassen. Das Koma, in das Zisk fällt, ist das Koma, in dem ganz Belarus versunken ist und schließlich doch 2020 daraus erwacht. Zisk ist nicht mehr der, der er einmal war. Er ist der ehemalige Sohn, weil er sich nicht mehr mit seinem Land und Eltern(-generation), die dieser Diktatur nichts entgegensetzen, identifizieren kann. "Ein Koma reicht mir. Ich habe zehn Jahre meines Lebens verloren und will nicht den Rest auch noch verlieren." (S. 292).

Als Stilmittel verwendet der Autor häufig den Monolog. Indem die Personen mit Zisk sprechen, der eher tot als lebendig wirkt, öffnen sie sich und sprechen deutlich und ungeniert aus, was sie denken. Das langweilt nicht, sondern läßt die verschiedenen Charaktere deutlicher hervortreten. Sympathieträgerin und zentrale Figur ist für mich die Großmutter, die unerschütterlich an die Genesung des Enkels glaubt. 

Filipenko hat ein kluges Buch mit starken Figuren geschaffen, auch unsympathischen. Seine Systemkritik wird durch zahlreiche historische Ereignisse untermauert und seine Figuren sind die Sprachrohre unterschiedlicher Gruppierungen (Jugendliche, Lehrer, Soldaten, Schriftsteller). Seine Sprache ist vielfältig, von poetischen Szenen bis zu den derben Unterhaltungen auf der Schultoilette ist alles dabei. Seine Beschreibungen der dramatischen Szenen sind beklemmend gut.

"Rote Kreuze" von Filipenko war eines meiner Highlights 2020. "Der ehemalige Sohn" reicht nicht ganz an dieses Buch heran und erhält von mir 4 Sterne. Es empfiehlt sich, die Anmerkungen der Übersetzerin am Ende des Buches zuerst zu lesen. Diese Anmerkungen nehmen nichts von der Geschichte vorweg, sind aber enorm erhellend für das Verständnis.