Rezension

Dies ist KEIN "prophetischer" Roman!

Der ehemalige Sohn -

Der ehemalige Sohn
von Sasha Filipenko

prophezeien (Deutsch) - Wortbedeutung/Definition: 1) etwas Zukünftiges vorhersagen; etwas möglicherweise Eintretendes voraussagen.

Dieser Debütroman von Sasha Filipenko wird als "prophetisch" gepriesen. In diese Richtung geht auch sein Vorwort der nun ins Deutsche übersetzten Fassung. Hier schreibt Filipenko: "Zum Glück für den Autor, aber zum Leidwesen der Belarussen sind ganze Seiten aus meinem Roman Wirklichkeit geworden...". Worum geht es überhaupt? 1999 fällt der Jugendliche Franzisk in ein Koma, nachdem er eine Massenpanik in Minsk überlebte. Zwischenzeitlich kümmert sich seine Großmutter liebevoll um den Komatösen und seine Mutter sowie der Stiefvater vernachlässigen ihn skandalös.  Zehn Jahre später erwacht er und sein Land hat sich kaum verändert, ist eher zu einer noch schlimmeren Diktatur geworden. Zum Schluss kommt es zum Aufstand, der blutig niedergeschlagen wird.

Prophetisch ist das Ganze deswegen nicht, da alle Eckdaten und -ereignisse des Romans exakt so bis 2011, dem Jahr in dem der Roman endet, stattgefunden haben. Dies erfahren die interessierten aber eventuell nicht so gut informierten Lesenden aus einem sehr fundierten und wichtigen Nachwort der Übersetzerin. Das heißt, der Roman spiegelt tatsächlich eher die jüngere Zeitgeschichte des Landes wieder, als prophetisch in die Zukunft zu schauen. Der 2014 veröffentlichte Roman erfährt nun zufällig eine neue Aktualität durch die Geschehnisse im Land in 2020. Dies kommt dem Verlag unzweifelhaft zu pass, welcher dem Buch nun mehr unterstellt, als es leistet.

Politisch also hochaktuell und informativ ist dieser Roman durchaus. Ich hätte aber lieber einen Essay zum Thema gelesen als diese Geschichte mit einem doch recht weit hergeholten, überkonstruierten Plot. Durch sehr überzufällige Begebenheiten taucht der Protagonist zufällig überall dort auf, wo etwas historisch Belegtes in Minsk passiert. Das Buch ist ein gutes fiktionales Sprachrohr der belarussischen oppositionellen Bevölkerung, jedoch leider literarisch weniger überzeugend. Die Nebenfiguren sind größtenteils als Typen enworfen, die eher soziologischer aber gar keiner psychologischen Betrachtung dienen. Das ist okay, kann man machen. Aber auch die Hauptfigur Franzisk bleibt leider vollkommen flach, bekommt keine richtige Tiefe. Empathien für sein Schicksal werden eher durch die Konstruktion von den beiden scheinbar eindeutigen Polen "gut"/"liebevoll" (Großmutter) und "böse"/"kaltherzig" (Mutter und Stiefvater) und deren Handlungen und Gedankengänge erzeugt, als durch die Person Franzisk selbst. So bleibt der Roman eine unausgegorene Mischung aus Drama um das Schicksal des Komatösen und politischem Statement zum Schicksal eines Landes in katastrophalen Zuständen gesprenkelt mit ein wenig, kaum nennenswerten Galgenhumor.

Somit würde ich abschließend nicht aktiv von der Lektüre abraten. Gerade durch die Anmerkungen der Übersetzerin Ruth Altenhofer wird dieses Buch für deutschsprachige Leser*innen verständlicher und damit auch aufgewertet. Aber so wirklich empfehlen kann ich den Roman auch wieder nicht. Lieber einen guten Essay oder Reportage zum Thema lesen, würde ich sagen.