Rezension

Ausgezeichnet überzeichnete Lebenswirklichkeit

Der ehemalige Sohn -

Der ehemalige Sohn
von Sasha Filipenko

Bewertet mit 5 Sternen

Im letzten Jahr hatte ich mit Begeisterung „Rote Kreuze“ von Sasha Filipenko gelesen und fieberte nun der deutschen Übersetzung seines eigentlichen Debüts entgegen. Die im Klappentext angekündigte kritische Auseinandersetzung mit dem autoritären Regime in Belarus ist dabei verwoben mit dem Schicksal eines Jungen, der nach zehn Jahren aus dem Koma erwacht.

Franzisk Lukitsch besucht in Minsk ein Lyzeum mit musischer Ausrichtung, lernt dort Cello, ist allerdings ein eher fauler, pubertärer Schüler, der immer kurz vor dem Rauswurf steht. Seine Großmutter versucht stets ihn anzutreiben und zu motivieren mit mäßigem Erfolg. Ihre ständige Angst, Franzisk könnte sich die Hände verletzen, erscheint nach der Massenpanik in der Minsker U-Bahn, in deren Folge Zisk ins Koma fällt, geradezu lächerlich. Doch ebendiese Großmutter, Elvira Alexandrowna, ist letztlich die einzige gute Seele, die sich auch im Koma weiterhin um ihn kümmert. 

Mit Hilfe von Franzisks Besucher adressiert Sasha Filipenko seine Kritik am Staat. Teilweise kommt diese in den Handlungsweisen der Figuren zum Ausdruck, teilweise lässt er die Protagonisten direkt von den Missständen berichten. So entsteht nach der Einführung in das Geschehen eine unglaublich dichte Story, die für ein Menschenleben überladen erscheint. Mich stört das hier wenig, weil das Überladene zu meinem Gesamteindruck des Romans passt. Die lakonische, sarkastisch angehauchte Sprache überzeichnet viele Situationen. Dadurch wird das Hoffnungslose und die Machtlosigkeit gegenüber dem Regime noch deutlicher.

Man merkt aber auch, dass der vorliegende Roman das Erstlingswerk ist. Den ein oder anderen Übergang hätte ich mir etwas geschmeidiger oder besser erklärt gewünscht. Das war bei „Rote Kreuze“ aus meiner Sicht besser gelungen. Was mir hier ebenso gut gefällt, sind die passend eingestreuten Auszüge aus Gedichten. Dadurch wird eine schöne literarische Wirkung erzielt.

Trotz leichter Abstriche im direkten Vergleich zu „Rote Kreuze“ vergebe ich Bestnoten, da auch dieser Roman für mich ein uneingeschränktes Lesevergnügen war. Mit Witz und Charme wurde ein ernstes, eigentlich unerträgliches Thema behandelt, so dass ich nun auf noch ganz viele Leser*innen dieses Romans hoffe.