Rezension

Wenn der Sandmann zum Kinderschreck mutiert

Der Sandmann
von Lars Kepler

Ein junger Mann stolpert auf einer Eisenbahnbrücke im Schneegestöber durch die Nacht. Er ist abgemagert, verwahrlost und mit der Legionärskrankheit infiziert. Trotzdem ist er in dem Moment der glücklichste Mensch auf der Welt, denn er entkam seinem Peiniger - dem Sandmann mit den Porzellanfingern! Die Polizei kann es gar nicht glauben, als sie die Personalien des Gefundenen aufnehmen, denn dieser wurde vor 13 Jahren, als er gemeinsam mit seiner Schwester Felicia in die Fänge des Serienkillers Jurek Walter geriet, für tot erklärt. Joona Linna ist es zu verdanken, dass Schwedens schlimmster Killer unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen bis zum Lebensende wegsperrt wird, denn er hat ihn damals auf frischer Tat ertappt. Seit jener bedeutenden Nacht ist Joona der Meinung, dass Jurek einen Komplizen haben musste, doch die Spur wurde nicht greifbar. Hat der Killer mit Mikael Kohler-Frosts Flucht einen Fehler begangen oder war es ein perfider Plan, um ein viel größeres Ziel zu erreichen?

Das Autorenduo Lars Kepler hat mit ihrem neuesten Krimi ganz tief in Spannungs-Trickkiste gegriffen, denn dieses Buch strotzt nur so vor Tempo und unterschwelliger Angst, die in Jureks psychiatrischen Abteilung natürlich eine hervorragende Nahrungsquelle geliefert bekommt. Nachdem Mikaels Auftauchen die Hoffnung schürte, dass Felicia auch noch lebend gefunden wird, schleußt die Polizei mit Saga eine verdeckte Ermittlerin in die Nähe von Jurek ein, um das geheime Versteck zu erfahren. Dieses Unterfangen entwickelt sich zu einem echten Nervenspiel, weil der Patient eine ungeheure Macht mit seinen Worten auf die Umgebung ausübt, wodurch es den Ärzten verboten ist mit ihm zu kommunizieren. Die zwischenmenschlich Zwangsgesellschaft ist durch die Unerfahrenheit der medizinischen Mitarbeiter wie ein perfekt konstruierter Psychothriller geladen und geprägt von gefährlichen Situationen, die selbst eine ausgebildete Gesetzeshüterin in die Bredouille bringen. Beide Gegenspieler werden sehr stark charakterisiert, da sie von ihrer Raffinesse auf einer Ebene stehen und sich ihr kleiner unterschwelliger Machtkampf immer weiter hochschaukelt, sodass wir Leser völlig gefangen von den beiden Parteien sind – ähnlich wie bei „Die Schöne und das Biest“.

Dem gegenüber steht die Hetzjagd in der Weite Schwedens nach dem Versteck, was wie die berühmte Nadel im Heuhaufen anmutet. Joona Linna zeigt hier, wie brilliant sein Gedächtnis arbeitet, wobei aber auch seine Menschlichkeit nicht zu kurz kommt, schließlich war Jurek der Grund für den inszenierten Tod an seiner Familie. Diese Details, die helfen den Protagonisten in seinem Handeln zu verstehen, werden immer wieder gelungen eingeflochten, sodass man auch Kenntnisse der Vorgänger prima mitfiebern kann.

An den Schreibstil im Präsens musste ich mich nur kurz gewöhnen, weil die Kapitel angenehm kurz waren, flog ich ohnehin durch die Seiten. Zum Finale im letzten Viertel des Krimis erleben wir dann eine wahres Feuerwerk an Szenen, die sich durchaus in einem Actionfilm finden würden. Der Effekt wird leider durch viele Ungereimtheiten getrübt, die sich zum Ende hin häufig aneinanderreihen und in der Masse unangenehm auffallen, dafür ziehe ich einen halben Stern ab, weil Unlogik ein ziemlicher Spannungskiller sein kann.

Der obligatorische Cliffhanger verfehlt die Wirkung nicht, wenngleich sich zeigen wird, wie gelungen sich die Andeutung aufklärt. Ich mag kurz nach dem Erscheinen von „Der Sandmann“ gar nicht mehr auf die Fortsetzung erwarten, denn der Sog hält auch jetzt noch an!