Rezension

Eingemauerte Emotionen

Was von Dora blieb
von Anja Hirsch

Bewertet mit 3.5 Sternen

Ein Beleg für die Schwierigkeiten der Kriegskinder und Kriegsenkel in Beziehungen wird hinreichend erbracht - leider auf Kosten der emotionalen Beteiligung des Lesers.

Isa steckt in einer Ehekrise und flüchtet sich in die Spurensuche ihrer Großmutter Dora und der Kindheit ihres Vaters.

Anfangs war ich begeistert, der Einstieg gelang ganz leicht und die beiden Zeitebenen versprachen jede für sich einen Spannungsbogen. Die Erzählstimme ist flüssig und abwechslungsreich. Schnell entwickeln sich Parallelen zu Doras und Isas Kindheit, die beide eine besondere Beziehung zum Vater haben. Die Geschichte wirkt historisch sehr gut recherchiert und geizt nicht mit Hintergrundinformationen.

In der weiteren Entwicklung konnte mich Doras Geschichte mehr fesseln als Isas, die ihren Problemen auswich und immer um sachliche Contenance bemüht war, anstatt sich ihren Emotionen zu stellen. Auch bei Isas Experiment in Sachen Liebe schien sie immer ein Stück weit unbeteiligt zu bleiben. Einzig der psychische Aussetzer hauchte ihr Leben ein, doch den hat sie viel zu schnell wieder im Griff.

Akribisch arbeitet Isa sich durch Doras Vermächtnis und durch die Tagebücher ihres Vaters, scheut nicht, weitere Recherchen in Archiven zu betreiben, und entfernt sich damit immer weiter von den Menschen in ihrem Leben.

Doras Jugend wird sehr anschaulich und in vielen detailreichen Szenen erzählt. Ganz anders als Isa lässt die junge Dora mich emotional mitfiebern und bangen. Dann folgt ein großer Zeitsprung und ich verliere auch die Verbindung zu Dora.

Die erwachsene Dora kann die Verluste in ihrem jugendlichen Leben nicht kompensieren und wird nach außen hart und unnachgiebig. Als der Krieg ausbricht, hilft ihr das, die Situation zu überstehen – gleichzeitig ist sie emotional unerreichbar für ihre Kinder - mit fatalen Folgen. Auch ich kann die Bindung zu Dora nicht wiederherstellen, ein Grund dafür ist, dass jetzt ihr Sohn (Isas Vater) im Vordergrund steht. Er wird mir durch seine Tagebucheinträge aus der Kindheit nah gebracht und verschwindet dann in seinem korrekten Beamtenleben.

Ich versuche gemeinsam mit Isa, die Gründe für ihr gestörtes Verhältnis zum Vater zu erarbeiten und daraus eine Lehre für ihre aktuellen Probleme zu ziehen. Doch die Quintessenz bleibt aus. Es bleibt bei einem Puzzle aus Traumata und Missverständnissen, denen Isa zwar ein erzählerisches Gewand gegeben hat, doch die am Ende die sättigende Auflösung vermissen lassen.

Der Roman zeigt sehr schön die Schwierigkeiten der Kriegskinder und Kriegsenkel auf und transportiert dies anschaulich in den beiden Frauenschicksalen, die mit der Sprachlosigkeit ihrer Eltern und den unsicheren Bindung zu kämpfen haben. Beide scheinen diese Sprachlosigkeit geerbt zu haben und verschanzen ihre Emotionen hinter massiven Schutzmauern, kaum fähig emotional zugewandte Beziehungen zu leben und ihre Erwartungen an das Leben zu formulieren.

Dieses Aufzeigen der Muster und die nicht abreißenden Erläuterungen der historischen Hintergrundfakten verhindern bei mir, mich den Protagonisten nah zu fühlen und so lesen sich zwei Drittel des Buches wie der Bericht eines Unbeteiligten. Am Ende vermisse ich Isas Entwicklungsschritt und damit den Sinn der Aufarbeitung.