Rezension

Entgegen meiner Erwartung zu viel Fantasie

Was von Dora blieb
von Anja Hirsch

Bewertet mit 3.5 Sternen

"Was von Dora blieb", Anja Hirschs Debütroman, durfte ich im Rahmen einer Leserunde lesen. Danke.

Die Geschichte aus Kriegsenkelperskeptive hatte mein Interesse geweckt, gehöre ich doch selbst in diese Altersgruppe. Dazu dann Stichworte wie Doras Kunststudium, IG Farben und Besuch einer Napola-Schule, geschrieben von einer Journalistin, da habe ich mir dann einen auf Recherchen basierenden Roman mit einem Blick auf die Geschichte auch aus Frauensicht vorgestellt.

In Teilen wurde die Erwartung auch erfüllt, und dass Doras Sicht auf die Geschichte nun nicht dem entsprach, was ich mir vorgestellt hatte, dafür kann das Buch ja nichts. Aber was mir auch zwei Tage später noch nicht klar geworden ist, ist der Zusammenhang zwischen der zwei Erzählsträngen im Buch - auf der einen Seite Isa, Doras Enkelin, die sich (zur Ablenkung?) während einer Ehekrise im Jahr 2014 daran macht, sich mit den Dokumenten, die zu Dora existieren, auseinanderzusetzen. Aber aus einer geplanten Woche werden viele. Innerhalb dieses Erzähstrangs werden auch einzelne historische Begebenheiten angerissen, aber meistens mehr so nebenbei, im Kern geht es doch um Isas Befindlichkeiten und ihr Gedankenkarussell.

Diesem aktuellen Erzählstrang, der mehr oder weniger auf der Stelle steht, wird  ein historischer Erzählstrang an die Seite gestellt, in dem der Leser Doras Geschichte von 1914 bis 1972 verfolgen kann. Wobei der erste Teil, 1914 bis 1926, vielleicht der ist, in dem man am meisten von Dora erfährt, Kindheit, Jugend, Kunststudium, erste Liebe. Der zweite Teil schließt zunächst nahtlos an - macht dann aber einen 10-Jahres-Sprung (1937). Erste Chance, mehr über die Frühzeit der IG Farben zu erfahren, vertan. Und noch ein Sprung, auf 1943. Der dritte Teil beschäftigt sich mit Gottfrieds Tagebüchern (Doras Sohn, Isas Vater) - 1943 mit der Napola beginnend, dann Erlebnisse aus 1947 und abschließend wenige Seiten aus Doras Sicht 1953.

Die drei Teile des Romans würde ich - und das betrifft jeweils den aktuellen und den historischen Erzählstrang - als Aufbruch, Krise, Weitermachen betiteteln. Wobei ich mir für den dritten Teil sehr viel mehr Reflektion und Auflösung gewünscht hätte, als der Roman liefert.

Anja Hirsch sei durch ihre eigene Familiengeschichte zum Roman inspiriert worden - eine Angabe, wer das Vorbild z.B. für die literarische Figur des Großvaters, Max Schubert, war, fehlt aber. Da hätte ich mir konkretere Bezüge erhofft.

Insgesamt bleibt es bei einer Familiengeschichte, wie sie vermutlich bei vielen anzutreffen ist - bruchstückhafte eigenen Erinnerungen, erinnerte Erzählungen, wenig Dokumente - und viele Lücken. Ja, es gab ausformulierte Gedanken (Isa), die auch mich zum Nachdenken anregten, ingesamt aber hätte ich bei diesem Buch mehr Struktur und weniger Selbstfindung (die ja selten linear abläuft) erwartet.

So bleibt auch nach dem Lesen das im Buch beschriebene Gefühl "im Nebel durch einen Sumpf zu laufen" zurück, was nicht heißt, dass nicht auch zwischendurch mal ein Sonnenstrahl den Nebel durchbrochen hätte, wie vielleicht die Erkenntnis, dass nicht in jeder Familiengeschichte ein Geheimnis um (große oder kleine) Kriegsverbrechen oder vergrabene Opfertraumata schlummert.

Leseempfehlung? Schwierig. Vielleicht eher für die Kriegsurenkel, die auch im Leben mehr die Beobachter der Kriegsenkel sind? Mir zumindest gelang es nicht, mich mit der Kriegsenkel-Protagonistin Isa zu identifizieren.