Rezension

Eindringliches Gesellschaftsporträt

Kindheit
von Tove Ditlevsen

Bewertet mit 5 Sternen

„Die Zeit verging, und die Kindheit wurde dünn und platt wie Papier. Sie war müde und fadenscheinig und an schlechten Tagen sah es nicht so aus, als würde sie halten, bis ich erwachsen war.“

So beschreibt Tove Ditlevsen das Aufwachsen im Kopenhagen der 1920er Jahre. In ihre Arbeiterfamilie scheint sie nie hinein zu passen – das Verhältnis zur Mutter, die ihr oft lieblos begegnet, ist schwierig. Eine Verbindung zu ihrem Vater, der seine Arbeit als Heizer verloren hat, gelingt nur manchmal über die Literatur. Ihr Bruder Edvin amüsiert sich oft über ihre kitschigen Gedichte, die keinerlei Basis in der Realität haben und als sich die Beziehung der beiden Geschwister zueinander endlich bessert, zieht er von Zuhause aus.

Tove versteht als Kind nicht recht, wie man spielt und passt sich immer nur an ihre Freundinnen an, die sie zu Diebestouren, Besuchen in der Straße, wo die Prostituierten stehen und waghalsigen Mutproben überreden. Für solche Momente und vor allem in der Schule hat sie sich eine Maske zurecht gelegt, hinter der sie ihre Intelligenz, ihre wahren Interessen und den Wunsch, Schriftstellerin zu werden, verbirgt. Sie will ihr Leben selbst gestalten, spielt jedoch zwischenzeitlich die Rolle des Clowns und sagt über sich selbst:

„Kein Erwachsener verkraftet den Gesang in meinem Herzen und die Wortgirlanden in meiner Seele“.

Ihr autofiktionales Gesellschaftsporträt „Kindheit“ verfasste Tove Ditlevsen bereits 1967 bei einem Aufenthalt in einer Suchtklinik. Nun liegt dieses in metaphorischer, eingängiger Sprache verfasste Werk zu ersten Mal in deutscher Sprache vor, übersetzt von Ursel Allenstein. Der erste Band endet mit Toves Konfirmation, dem Ende der Schulzeit und somit ihrer Kindheit. Von nun an wird sie als Haushälterin für eine Dame kochen, putzen und sich um deren Sohn kümmern, denn zu mehr als diesen Aufgaben – und natürlich zur Heirat – sind Mädchen in diesen Zeiten nicht gut.

Die Bände zwei und drei folgen Mitte Februar und ich kann es nicht erwarten, mehr von und über diese erstaunliche Frau zu lesen – zum Glück liegen „Jugend“ und „Abhängigkeit“ schon hier bereit.