Rezension

Radikal realistisch

Kindheit
von Tove Ditlevsen

Bewertet mit 5 Sternen

In „Kindheit“ beschreibt Tove Ditlevsen ihre Lebenszeit zwischen dem fünften und vierzehnten Lebensjahr. Dass diese Kindheit bereits mit vierzehn endet, ist Teil ihrer Geschichte enttäuschter Kindheitsträume. Aufwachsend in einer Arbeiterfamilie im Kopenhagen der 1920er Jahre, versteht Tove schnell, dass sie anders ist als alle um sie herum. Sie möchte Dichterin werden. „Bild dir bloß nichts ein“, bescheidet ihr Vater sie. Der Besuch des Gymnasiums wird ihr, trotz Empfehlung ihrer Lehrerin, verwehrt. Sie soll Geld verdienen, denn am Ende heiratet sie ja doch.

Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Toves älterem Ich. Dennoch hat das nichts mit intellektueller Reflektion oder Analyse zu tun; der Text transportiert eine intensive Unmittelbarkeit. Zwischen die Erzählerin und die Leserin, so war mein Gefühl beim Lesen, passt kein Blatt Papier; so dicht ist man dran an Tove und ihren Träumen. Ebenso an ihrer Hoffnungslosigkeit - hat sie als Kind noch geglaubt, als Erwachsene würde für sie ein besseres Leben beginnen, erkennt sie an der Schwelle zum neuen Lebensabschnitt nun: „Die Zukunft ist ein monströser, übermächtiger Koloss, der bald auf mich herabstürzen und mich zertrümmern wird.“ Das Beste, was sie erhoffen kann, ist „… einen soliden Handwerker [zu] heiraten, der nicht trinkt, oder eine Stelle mit Rentenanspruch an[zu]treten.“ Das ist nur deshalb nicht deprimierend, weil von dem Text eine so geballte Energie ausgeht, eine Art dunkler Sog.  Tove wird es doch noch schaffen, das scheint gewiss, wie düster es in der erzählten Gegenwart auch aussehen mag. Was Ditlevsen zum Thema Kindheit zu sagen hat, ist das Klügste und Radikalste, was ich seit langem gelesen habe.

Dann ist da noch ihre Sprache - eine Mischung aus brutaler Direktheit und poetischer Präzision. „Sie ist kleiner als andere erwachsene Damen und jünger als andere Mütter, und es gibt eine Welt außerhalb unserer Straße, die sie fürchtet. Und wann immer sie und ich diese Welt gemeinsam fürchten, fällt sie mir in den Rücken.“ In ihren Schilderungen entlarvt sie die Borniertheit ihrer Eltern, indem sie deren Urteile unkommentiert als Tatsachen wiedergibt. „Dort in den Fenstern brennt fast nie Licht, weil dahinter die Schlafzimmer liegen und kein anständiger Mensch im Hellen schläft.“ Für die Außensicht auf die Familie genügt ein einziges Adverb: „…Das erzählt meine Mutter stolz jedem, der ihr noch zuhört.“ Das liest sich durchaus kantig; es führt zu Innehalten und Noch-mal-lesen; es erzeugt Irritation, und zwar von der richtigen Art: inhaltlich, nicht sprachlich. Der schmale Roman kam mir so dicht vor, als habe er dreimal so viele Seiten.

„Kindheit“ wurde vor mehr als 50 Jahren geschrieben, liest sich aber so gegenwärtig wie moderne Literatur. Mit ihrer kompromisslosen Autofiktion war Ditlevsen AutorInnen wie Rachel Cusk, Didier Eribon oder Karl-Ove Knausgard ein halbes Jahrhundert voraus. Eine großartige Neu- bzw. Wiederentdeckung des Aufbau Verlages – die beiden weiteren Bände der Trilogie, „Jugend“ und „Abhängigkeit“ stehen ganz oben auf meiner Wunschliste. Unbedingte Leseempfehlung!

Kommentare

wandagreen kommentierte am 13. Februar 2021 um 15:49

Hmhm. Toll. Ich da nur kein Lust drauf. So gar nit.