Rezension

Ergreifender Text durch die Radikalität des autofiktionalen Schreibens einer Autorin, die ihr Handwerk versteht

Kindheit
von Tove Ditlevsen

Bewertet mit 5 Sternen

„Schreiben heißt, sich selbst auszuliefern“ (S. 117). Dieses Zitat von Tove Ditlevsen könnte als Untertitel des kleinen Buches, das dennoch über mehr Inhalt verfügt als so mancher 500-Seiten- Wälzer, fungieren, denn sie berichtet schonungslos von den aus heutiger Sicht katastrophalen Bedingungen ihrer Kindheit, die dennoch zu einer „Seelenbibliothek ihrer Erinnerungen“ geworden sind.

Der Leser wird von der dänischen Autorin in das Kopenhagen ihrer Kindheit in den 20er-Jahren entführt, wo sie in ärmlichen Verhältnissen ungeliebt und unbeachtet aufwächst und daher von Anfang an den Wunsch hegt, ein anderes Leben zu führen, am liebsten das einer Dichterin.
Sie reflektiert offen in chronologischer Reihenfolge die Erlebnisse ihrer ersten Erinnerungen bis zum Alter von 14 Jahren. Dadurch entsteht das Porträt einer erschreckenden Kindheit, die den Leser mehr als einmal schaudern lässt. Die kleine Tove würde man wohl heute als "Wunderkind" oder zumindest als "Hochbegabte" bezeichnen, die sich trotz widriger Umstände - das Abitur wird ihr verwehrt, selbst Literatur wird insbesondere von der Mutter abgewertet, die Erwartungen, wie eine Frau zu sein hat, werden hingegen klar von ihrem Umfeld  definiert - zu einer (innerlich) selbstbestimmten Frau entwickelt. Aus jeder Zeile wird deutlich, wie sehr sich das kleine Mädchen nach Liebe, Geborgenheit und Verständnis gesehnt hat, die ihr verwehrt wurden. Ihre Sensibilität lässt sie leiden, ihre Klugheit verleiht ihr die Fähigkeit die Maske der Dummheit aufzusetzen. Diese ist gleichermaßen ihr Schutz und ihr Verderben. Denn durch sie, kann sie niemals als die, die sie ist, wahrgenommen werden. Vor dem historisch-soziologischen Hintergrund ist das sicherlich als Überlebensstrategie zu begreifen. Die Autorin selbst erfährt dadurch jedoch schwerwiegende Traumata. Gleichzeitig sind sie scheinbar die Quelle ihrer Werke und das Schreiben wird hier zur Therapie (vgl. Nachwort). Dominierendes und elementares Element ist das Gefühl der  "Fremdheit". Niergends erscheint Tove "zugehörig ". Der sich identifizieren Leser wird mit voller Wucht von diesem Gefühl und der Sensibilität der kleinen Dänin "umgehauen", denn die Perspektive des kleinen Kindes  ist gleichermaßen faszinierend und verstörend .
Neben der Radikalität des Autofiktionalen des Textes stellt die empfindsame und metaphorische Sprache das Großartige dar. Schon der zweite Satz ist ganz großes Kino und vermittelt einen guten Eindruck, was der Text zu bieten hat: "Sie [Anmerkung: die Hoffnung]  saß als flüchtiger Schimmer im glatten, schwarzen Haar meiner Mutter, das ich nie zu berühren wagte, und sie lag mir auf der Zunge wie der Zucker im lauwarmen Haferbrei, den ich langsam verspeiste, während ich ihre schmalen, gefalteten Hände betrachtete, die reglos auf den Zeitungsberichten über die Spanische Grippe und den Versailler Vertrag ruhten."

Meines Erachtens gehört auch der Übersetzerin ein großes Lob! An keiner Stelle hat man den Eindruck, dass die Ausdrücke nur "Notlösungen"  für sprachliche Bilder sind, die keine Entsprechungen in der deutschen Sprache haben, wie man sie so oft in Übersetzungen findet. Die Übertragung ist hier absolut gelungen. 
Auch ihr Nachwort macht Lust auf den zweiten und dritten Band, die ganz sicher von mir gelesen werden.

Mein Fazit: Fast jeder Satz in diesem kleinen Band hat mich tief berührt. Tove ist eine erstaunliche Persönlichkeit, die schon sehr früh wusste, was sie trotz der gesellschaftlichen Grenzen wollte und konnte.  Sie scheint, in einer falsche Zeit geboren zu sein. Ihre absolute Einsamkeit ist erschreckend und gleichzeitig doch, ohne den pädagogischen Zeigefinger zu benutzen, eine Mahnung an den Leser, genau hinzusehen. Die faszinierende Entdeckung eines unglaublich dichten Textes einer sehr intelligenten, modernen Autorin, die ihrer Zeit weit voraus war!  Der kleine poetische Band ist sprachgewaltig und inhaltlich steht er dem durch die radikale Subjektivität der Perspektive nicht nach. Prädikat: absolut empfehlenswert!