Rezension

Das schwierige Thema Tourette auf unterhaltsame, humorvolle Weise nahegebracht!

Sechs Millionen Kekse im Jahr - Jessica Thom

Sechs Millionen Kekse im Jahr
von Jessica Thom

Bewertet mit 4.5 Sternen

Zum Inhalt:

Jessica Thom leidet am Tourette-Syndrom. Sie kann viele ihrer Laute und Bewegungen nicht kontrollieren und lässt häufig Schimpfwörter los. Ein besonderer Tic von Jessica ist es, das Wort „Keks“ (bzw. „biscuit“) zu sagen, und zwar circa 16 Mal pro Minute. Das macht summa summarum ganze 6 Millionen Kekse im Jahr!
In ihrer Autobiographie schildert Jessica in vielen kurzen Beiträgen ein Jahr in ihrem Leben. Sie erzählt von ihrer Krankheit, ihrer Familie, ihren Freunden, ihrer Arbeit und den Reaktionen ihrer Mitmenschen, die nicht immer sehr freundlich zu ihr sind. Dabei verliert Jessica nie ihren Humor. Sie hat das Projekt „Touretteshero“ ins Leben gerufen, bereits zahlreiche TV-Auftritte absolviert, und unterhält und klärt gleichermaßen auf  mit ihren Internetvideos. 
 

Meine Meinung:

Dies ist mein zweites Tourette-Buch nach „Ficken sag ich selten“ von Olaf Blumberg. Nun kommt eine Frau zu Wort, die in London lebt, und ich war gespannt, ob es eventuell einen Unterschied macht, welches Geschlecht man als Touretter hat oder wo man lebt. Sind Engländer vielleicht toleranter als Deutsche? Verzeiht man einer Frau einen unflätigen Spruch leichter als einem Mann? Allerdings kann man die Bücher nicht wirklich miteinander vergleichen, wenngleich die Krankheitsbilder und auch die Erlebnisse, allen voran die, die die Ignoranz und Intoleranz der Mitmenschen betrifft, doch starke Ähnlichkeiten aufweisen.

Nur 10% aller Touretter haben auch verbale Tics, also unkontrollierbare Wortäußerungen. Tourette tritt bei Männern dreimal so häufig auf wie bei Frauen. Jessica Thom hat also den Tourette-Jackpot geknackt, da sie als Frau sowohl an körperlichen als auch an vokalen Tics leidet.

Die Autorin versteht es, ihre Krankheit von der humorvollen Seite zu betrachten. Obwohl ihre Tics immer schlimmer werden und sie körperlich stark beeinträchtigen (Teilweise kann sie nichtmal mehr richtig laufen.), verliert sie nie den Mut, und ihr größtes Bestreben ist, ihrem Umfeld mehr über Tourette zu erzählen. Auf negative Äußerungen ihrer Mitmenschen reagiert sie meist äußerst gelassen und freundlich und versucht stets, über ihre Tics aufzuklären. Oft gelingt ihr dies sehr gut, und die Leute begegnen ihr danach offener und freundlicher, doch es gibt auch viele Begebenheiten, die Jessica und auch mich als Leserin wütend und traurig zurückgelassen haben. Es ist doch wirklich beschämend, wie unmöglich sich manche Menschen verhalten! Da gibt es die, die Witze über sie machen, sie auslachen, nachäffen, oder diejenigen, die felsenfest davon überzeugt sind, Jessica könnte einen ordentlichen Exorzismus gebrauchen. Die Leute, die Jessica einfach ignorieren, wenn sie auf dem Boden liegt und vor lauter körperlichen Tics nicht mehr alleine aufstehen kann.

Ich bewundere Jessica umso mehr für ihren Kampfgeist, wie sie sich nicht nur mit ihrem Tourette arrangiert, sondern auch mit den vielen Idioten um sie herum. Hilfreich zur Seite stehen ihr hierbei liebe Familienmitglieder und Freunde, allen voran Leftwing Idiot, ihr Freund und Betreuer, Fat Sister, ihre Schwester, deren Partner und viele andere Menschen, die Jessica so akzeptieren, wie sie ist.

In diesem Buch wird Tourette auch von der positiven Seite gesehen. Man darf mit Jessica über ihre sehr einfallsreichen Wortkreationen lachen und Tourette tatsächlich auch ein Stück weit als Bereicherung kennenlernen. So war Jessicas Rede auf der Hochzeit ihrer Schwester für die Gäste sicherlich ein einzigartiges Erlebnis. Natürlich werden aber auch die negativen Seiten von Tourette geschildert. Es gibt auch einige Szenen, in denenTouretteshero auch an ihrem Schicksal fast verzweifelt, doch rappelt sie sich immer wieder auf.

Jessica Thom ist ein sehr offener Mensch, dem es ein Bedürfnis ist, aufzuklären, aber auch zu unterhalten. Es gelingt ihr, dem Leser ihre Krankheit in all ihren Facetten, mit all ihren Schwierigkeiten und Stolpersteinen darzulegen, ohne dabei in Selbstmitleid zu verfallen.

Der Schreibstil ist witzig, nicht nur durch die vielen vokalen Tics, die im Übrigen nicht nur aus Schimpfwörtern und Flüchen, sondern auch aus kreativen Wortspielen bestehen. Jessica Thom spricht den Leser direkt an, was eine gewisse Verbundenheit schafft. So begleiten wir die Autorin durch ein Jahr ihres Lebens, in dem sich ihre Tics tatsächlich sehr stark wandeln und verschlechtern.

Ich habe viel Neues über Tourette gelernt. Der einzige Kritikpunkt, den ich bei diesem Buch anmerken möchte, ist der, dass trotz einer chronologischen Ordnung die meisten Beiträge recht zusammenhanglos und durcheinander sind. Ein roter Faden hätte mir gefallen, wenngleich er bei den großen, wichtigen Themen (Wohnsituation, Therapie u.a.) durchaus erkennbar ist. Aber es ist eher eine Sammlung von Blogbeiträgen, die zu einem Buch gebunden wurden. Außerdem finde ich den Preis von 24,95 € für eine 220 Seiten umfassendes Softcoverausgabe ganz schön happig.

Neben einem interessanten Vorwort von Stephen Fry sowie einem Anhang, in dem nochmal die wichtigsten Fragen zu Tourette beantwortet sowie nützliche Adressen aufgelistet werden, kann der interessierte Leser sich auch noch auf Jessica Thoms Webseite www.touretteshero.com weitere Informationen einholen. Dieses Buch schafft es, dem Leser auf unterhaltsame, humorvolle Weise das schwierige Thema „Tourette“ näher zu bringen. Lachen ist hier ausdrücklich erlaubt!