Rezension

Update einer abgenutzten Story

Unser wirkliches Leben -

Unser wirkliches Leben
von Imogen Crimp

Bewertet mit 3 Sternen

„Nichts ist vergleichbar – diese Spannung – dieses Wissen, dass gleich hinter diesen Mauern Menschen warten, die gekommen sind, um dich zu hören. Die dich nicht unterbrechen, sondern zuhören werden. Sie sind nicht auf Perfektion aus, diese Menschen, auch wenn du vorhast, perfekt zu sein. Was sie von dir wollen, ist, dass du etwas Wahres sagst.“

Anna gehört nicht dazu. Nicht zu ihren wohlhabenden Kommilitonen am Londoner Konservatorium, wo sie Gesang studiert, noch zu ihrer Familie und sicher nicht zu Max, den sie in der Bar kennenlernt, in der sie sich ihren Lebensunterhalt als  Jazz-Sängerin verdient. Max ist angekommen und weiß, wer er ist. Anna muss sich noch finden, ist unsicher und ersehnt, nach einer lieblosen Kindheit, Bestätigung. Max´ raffiniertes Wechselspiel aus Leidenschaft und Reserviertheit führt zu obsessiver Verliebtheit Annas. Bald muss sie sich entscheiden: Diese Beziehung oder ein eigenes Leben?

Die Antwort scheint  klar – aber Crimp  gelingt es, Annas Verstrickung und ihre Suche nach dem richtigen Weg überzeugend darzustellen. Sie vermittelt ein Gefühl dafür, wie schwer es für eine junge Frau in der Gegenwart ist, das Narrativ der Gesellschaft „Du kannst alles erreichen“ mit dem Erwartungsdruck von Partnern „Sei so, wie ich es mir wünsche“ zu vereinbaren. Ihre Benachteiligung durch Armut, Klasse und Geschlecht ist im Außen kein Thema, bleibt rein innerliches Erleben und führt zu Ohnmachtsgefühlen. Diese Schizophrenie wird so intensiv fühlbar, dass es kaum auszuhalten ist – das fand ich ganz großartig.

Eine weitere Stärke dieses Romans ist die Darstellung von Annas Lebenswelt. Die gnadenlose Konkurrenz der Studentinnen, das Ringen um stimmliche Perfektion, die ständige Sorge um die Stimmbänder, erschöpfende Proben, das zermürbende Vorsingen für Rollen, dazu ihre deprimierende Wohnsituation – und auf der anderen Seite die Faszination der Musik, der Bühnenrollen, des ganzen glamourösen Milieus. Anna hat Talent und Präsenz; Crimp lässt einen die Szenen mit ihren Bühnenauftritten mit unmittelbarer Intensität erleben. Dieser Aspekt des Romans gefiel mir am besten.  

Dagegen Max in einem Leben ohne Substanz; Banker, beinah geschieden, glossy Apartment über dem Londoner Hafen, Haus auf dem Land, in dem Anna nicht willkommen ist, unerschöpfliches Spesenkonto und eine Menge Kontakte, aber keinerlei tieferen Sinn. Max´ Blick auf Anna steht stellvertretend für den (patriarchalen) männlichen Blick auf Frauen – dessen Urteil Anna sich in vorauseilendem Gehorsam unterwirft, während die Leserin sich während der Lektüre innerlich krümmt. Durch Max´ Sicht auf Annas Traum wirft Crimp außerdem die Frage auf, ob Kunst einen Wert für die Gesellschaft hat – oder, aktuell formuliert, ob sie „systemrelevant“ ist. Ein klug in den Roman geflochtenes Motiv. Ein weiteres Thema sind die Brüche (und Lebbarkeit) des Third Wave Feminismus, ironisch verkörpert durch  Annas beste Freundin Laurie und eine feministische WG, deren BewohnerInnen herrlich absurde Diskussionen führen.

Was mir nicht gefiel, war die Ausführlichkeit der Leidensschilderung von Anna. Da gab es Redundanz - all diese Unsicherheiten, die ständige Selbstbespiegelung, ihre Larmoyanz – damit hatte ich (Feministin der ersten Welle) wenig Geduld.  Derzeit scheinen übrigens junge britische Autorinnen einen Hang zu Sexszenen mit masochistischer Tendenz zu haben – siehe Sally Rooney. Was soll frau davon halten? Ich fange an, das bedenklich zu finden.

Gut fand ich wieder das ambivalente Ende, das die ansonsten (in Annas Opernrollen vorkommende) gespiegelte Trope „Älterer Mann tut junger Frau etwas an, das sie nie verwindet“ etwas aufbricht – und das ist auch nötig. Aber insgesamt reicht es, vor allem wegen der Leidenslängen im Mittelteil, bei mir leider nicht für mehr als 3 Sterne.