Rezension

Protagonist auf Sinnsuche

Neringa - Stefan Moster

Neringa
von Stefan Moster

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Es ist eine einzige Einstellung in einem Film, die ihn aufrüttelt: eine kurze Szene am Mont-Saint-Michel, der berühmten Felseninsel im normannischen Wattenmeer. Der Mann, den dieses Bild an eine längst vergessen geglaubte Postkarte erinnert, ist ein Deutscher, der in London lebt, er ist soeben fünfzig geworden und voller Zweifel an seinem Lebensentwurf. Zwar mangelt es ihm nicht an Erfolg, doch vermisst er das Gefühl, der Nachwelt etwas Sichtbares zu hinter lassen – und Nachkommen, die seine Hinterlassenschaft schätzen und sich an ihn erinnern könnten. So scheint es kein Zufall, dass gerade jetzt die Erinnerungen an seinen Großvater Jakob Flieder – den damaligen Absender der Karte vom Mont-Saint-Michel – wach werden, der als einfacher Pflasterer ein die Jahrzehnte überdauerndes Werk geschaffen und eine Familie ernährt hatte. Trotzdem entfaltet die Flut der Fragen, die sich dem Enkel plötzlich aufdrängen, eine ungeahnte Wucht. Getrieben von der unbestimmten Sehnsucht nach einem Leben voller Bestimmung, begibt sich ein Mann auf die Spuren seiner Familie – und muss sich fragen, wie zuverlässig die Geschichten sind, die man sich über sich selbst erzählt, und wie zufällig die Quellen und Überlieferungen, derer man sich dafür bedient. Und mitten in der biografischen Sinnsuche, die der Autor virtuos mit deutschen Schicksalen vom frühen 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart verknüpft, führt die Begegnung mit einer jungen Frau aus Litauen zu einer ganz neuen Möglichkeit des Glücks im Hier und Jetzt.

Der Autor, Stefan Moster, erzählt die Geschichte des 50-jährigen Protagonisten, der durch schlimme Kindheitserfahrungen durch einen jetzt gesehenen Kinofilm plötzlich zurückgeworfen wird, in seine Jugend und Kindheit, in freudigen wie melancholischen Erinnerungen an seinen Großvater schwelgt, der damals Pflasterer war, frühere Therapiesitzungen noch einmal durchlebt, Orte von Früher besucht, an denen sein Großvater war, seinen Eltern Fragen stellt und erkennt, dass vieles doch ganz anders war, als in seiner Vorstellung. Er hatte seinen Großvater so sehr idealisiert, dass er gar nicht damit gerechnet hatte, dass vieles davon gar nicht so rosig war, wie er es sich immer gedacht hatte.

Durch seine aufbrausende Art mit dem Hang, sich selbst zu verletzen hat er damals eine Psychotherapie durchgeführt. Er wirkt einsam, und macht sich viele Gedanken, was er einmal der Nachwelt hinterlässt, wenn er nicht mehr da ist. Er hat ja nicht einmal Frau und Kinder.

Dann lernt er Neringa kennen, die anfangs seine Putzfrau ist und mit ihr zusammenkommt. Diese viel jüngere Litauerin, kann durch ihre kluge, besinnliche und beruhigende Art ihm vieles zeigen und ihm helfen, seinem Leben einen Sinn zu geben.

Stefan Moster besticht durch seinen außergewöhnlichen Sprach- und Schreibstil. Präzise, anspruchsvoll und klar, umwoben von melancholischen und philosophischen Ansätzen ist es ein Genuss und eine Freude, dieses Buch zu lesen. Ich war schnell in der Geschichte, wobei die Orts- und Zeitwechsel relativ rasch aufeinanderfolgen. Leider konnte mich, trotz des außergewöhnlichen Sprachstils, die Geschichte um den 50-jährigen Protagonisten ohne Namen, nicht ganz so mitnehmen und begeistern, wie ich es mir gewünscht hätte.

Neringa- oder die andere Art der Heimkehr – dies sagt der Titel schon aus. Der Protagonist ist heimgekehrt, zu sich selbst, dank Neringa, die ihm Hoffnung auf ein schönes und erfülltes Leben gibt.