Rezension

Authentischer und kluger Klärungsversuch des eigenen "Identitäterbes"

Neringa - Stefan Moster

Neringa
von Stefan Moster

Bewertet mit 4 Sternen

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Der Roman erscheint im Februar 2016 (print) (mareverlag, Hamburg)  in gelungenem 'outfit', das Cover betreffend und einem hübschen, farblich passenden orangenen Lesebändchen in HC; das Cover selbst lässt den Betrachter nachdenklich werden, weckt das Interesse des Lesers, was sich zwischen den beiden Buchdeckeln verbergen mag....

"Es ist eine einzige Einstellung in einem Film, die ihn aufrüttelt: Eine kurze Szene am Mont-Saint-Michel, der berühmten Felseninsel im normannischen Wattenmeer. Der Mann, den dieses Bild an eine längst vergessen geglaubte Postkarte (seines Großvaters) erinnert, ist ein Deutscher, der in London lebt, er ist soeben 50 geworden und voller Zweifel an seinem Lebensentwurf: Zwar mangelt es ihm nicht an Erfolg, doch vermisst er das Gefühl, der Nachwelt etwas Sichtbares zu hinterlassen - und Nachkommen, die seine Arbeit später schätzen und sich an ihn erinnern könnten. So scheint es kein Zufall, dass gerade jetzt die Erinnerungen an seinen Großvater Jakob Flieder (...) wach werden, der als einfacher Pflasterer ein die Jahrzehnte überdauerndes Werk geschaffen und eine Familie ernährt hatte. Die Flut der Fragen, die sich dem Enkel mit einem Mal aufdrängen, entfaltet eine ungeahnte Wucht ... Bis ihm die Begegnung mit einer jungen Frau aus Litauen die Augen öffnet für eine ganz neue Möglichkeit des Glücks im Hier und Jetzt."(Quelle: Klappentext)

Meine Meinung:

Es handelt sich um einen literarisch anspruchsvollen Roman, auf den man sich als Leser einlassen muss: Der Ich-Erzähler und Protagonist wirkt, obgleich sehr erfolgreich in seiner Branche (IT) und seinem Job, den er aufgrund seiner Kompetenzen und dem Wissen, dass er, "noch analog sozialisiert", wie sein Chef anmerkt, sich aneignen konnte, souverän meistert und damit viel Geld verdient. In privater Hinsicht sieht alles weniger rosig aus: Unübersehbar ist die Tatsache, das der Protagonist - der ohne Namen bleibt - die Verortung des Romans jedoch autobiografische Züge trägt - in Studien- und früheren Jahren eher einsam ist, schlecht Kontakt findet und auch Beziehungen aufgrund seines impulsiven Wesens eher schwierig verlaufen.... Er neigt zu Depressionen und einem gewissen Verlust von Selbstkontrolle in für ihn schwierigen Situationen sowie einer Art von Selbstablehnung, so dass er auf professionelle Hilfe setzt und eine mehrjährige Psychoanalyse durchläuft....
Diese Sitzungen werden in schonungsloser Offenheit und großer Emotionalität beschrieben und gehören m.E. zum Kern der Handlung, da sie gewisse (positive) Veränderungen nach sich ziehen. Teil der analytischen Sitzungen (und des Romans) sind die Erzählungen um Jakob, dem Großvater, der von Beruf Pflasterer gewesen ist und vor langer Zeit mit viel Kreativität diesen Beruf ausübte....  Im Romanverlauf wird klar, dass der Protagonist sich selbst fragt, was er selbst einmal der Nachwelt hinterlassen wird - und als genetisches Vorbild Jakob, dem Großvater, nacheifern möchte - ihn jedoch auch gleichzeitig ein Stück weit 'entzaubert'.

Besonders gut gefallen hat mir die tiefe Zuneigung und der Respekt des Enkels, die dieser Jakob entgegenbringt; auch das sehr behutsame und langsame "sich-näherkommen" des Protagonisten und Neringa's, die zuvor bei ihm putzte und daneben in einem Kreis von Puppenspielern mit litauischen Landsleuten und anderen Migranten hingebungsvoll Figurentheater spielt...
Neringa mit ihrer großen Empathiefähigkeit und ihrer Art, im Hier und Jetzt zu leben, sind Balsam für die Seele des Protagonisten und sein Leben, das auch eine Gewalterfahrung in sich trägt, gewinnt wieder an Leichtigkeit.

Fazit:

Ein flüssig zu lesender, teilweise etwas schwermütiger, insgesamt sehr ernster, aber auch sehr aufrichtiger und ehrlicher sowie sensibel geschriebener Roman um (zuweilen auch falsche) Bilder und Vorstellungen der Vorfahren: Das Leben des Großvaters Jakob wird in der Retrospektive mit großer Zuneigung des Enkels und Protagonisten nachgezeichnet, auch in Beziehung gesetzt zum eigenen Leben. Das "Identitätserbe" wird Schicht um Schicht freigelegt, um den eigenen Weg trittsicher weitergehen zu können - in ein Leben, dessen "Lebenslücken" gefüllt werden konnten ...
Ungewöhnlich, viel Spielraum für eigene Gedanken zulassend, zum Nachdenken anregend - kurz: Empfehlens- und lesenswert!
Von mir gibt es 4 Sterne am Literaturhimmel und 88°