Rezension

Coming of Age 1930 - Spannend, empathisch, mit sensiblem Blick für die Natur

Vom Ende eines Sommers -

Vom Ende eines Sommers
von Melissa Harrison

Bewertet mit 5 Sternen

Edith Mather vermisst ihre Schwester Mary, die gerade jung geheiratet hat und nun ihrem Ehemann gehorchen muss. Obwohl  Mary mit Mann und Baby nicht weit von der elterlichen Farm lebt, ist es im ländlichen Suffolk der 30er Jahre nicht üblich, dass eine verheiratete Frau alltags spontan einen Besuch macht. Als landlose Bauern, die ihre Farm vom Großgrundbesitzer gepachtet haben, sind drei Generationen Mathers erfahrene Landwirte, deren tägliches Leben sich allein um „unser Land“ dreht, um den Betrieb, die Arbeitspferde und das sichere Einbringen der Getreideernte. Marys Heirat hat der Familie verdeutlicht, an welch dünnem Faden das Funktionieren des Betriebes hängt; denn Mary fehlt nicht nur Edith und Mutter Ada als Vertraute, sondern als Arbeitskraft auf dem Hof. Mehr als 10 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg befindet sich England mitten in einer Wirtschaftkrise; für die Versorgung des Landes mit Lebensmitteln fehlen besonders in der Landwirtschaft Arbeitskräfte.  Spätestens beim Besuch der Großeltern mütterlicherseits muss Edith der Nebenwiderspruch klar sein, dass Haus und Einkommen traditionell allein mit der Arbeitskraft des männlichen Landarbeiters oder Pächters verbunden sind – auch wenn die gesamte Familie den Hof bewirtschaftet. Gingen Haus und Hof verloren, ständen drei Generationen mit leeren Händen da.

Ediths Familie stellte ihre gesellschaftliche Schicht und traditionelle Rollenverteilungen nie in Frage. Die Planung der Farmarbeit, Wirtschaft und Politik sind Männersache. Ada würde sich um des lieben Friedens willen dazu nicht äußern, obwohl sie dazu in der Lage ist und ihre Vorfahren Bauern waren. Die 14-jährige Edith  jedoch will sich dem Druck nicht beugen, Männern gefallen zu müssen, noch ehe sie selbst entschieden hat, wie sie leben will. Edith schließt eine Ehe nicht aus, sie möchte nur nicht in eine Rolle gedrängt und über ihren Kopf hinweg per Dorfklatsch verschachert werden. Ihren Heimatort hat sie nie weiter verlassen als bis zum Markt in der nächstgrößeren Stadt,  doch sie will anders leben als Mutter und Schwester. Als Constance FitzAllen nach Elmbourne kommt, um eine regelmäßige Kolumne zu schreiben über das idyllische Landleben, wie sie es sich vorstellt, hätte das eine Chance für Edith sein können, ein anderes Rollenbild kennenzulernen. Constance, die geschickt besonders die Männer des Dorfs zum Reden bringt über traditionelle Landarbeit, interessiert sich bemerkenswert wenig für Leben und Arbeit von Frauen. Die gebildete Frau aus der Stadt  findet offenbar alle Arbeiten bewahrenswert, die zeitraubend und anstrengend sind. Ada hätte sicher nichts dagegen, dass auf dem Hof selbst gebuttert wird, wenn sie ein Hausmädchen hätte, die Butter zu fairen Preisen zu verkaufen wäre und sie über die Einnahmen selbst verfügen könnte. Von Rechten für die „mithelfenden“ Familienangehörigen ohne eigenes Einkommen ist in Constances Artikeln jedoch nicht die Rede.  Was wären Großvater, Vater und Sohn Mather, wenn Frauen und Töchter nicht auf dem Hof mitarbeiten würden?

Vom Nachwort der Autorin, wie sie zu ihrem Roman angeregt wurde, sollte man sich überraschen lassen und sich vor Spoilern hüten.

Melissa Harrison verbindet in der Tonlage britischen Nature-Writings  das Heranwachsen eines Mädchens vom Dorf in den 30ern mit der Sozialgeschichte landloser Pachtbauern und der Frage, ob Traditionen veränderbar sind, solange allein sozialer Status das Bewusstsein bestimmt. Zwei eher beiläufige Bemerkungen sorgen in ihrem atmosphärisch gelungenen Roman für Spannung: Edith erzählt in hohem Alter offensichtlich rückblickend ihre Lebensgeschichte, so dass ich gespannt darauf wartete, ob die damals 14-Jährige vom vorgezeichneten Weg abweichen konnte. Vorangetrieben wurde die Handlung ebenso durch das Rätseln, welche Interessen Constance in Elmbourne eigentlich verfolgte …

Spannend, empathisch, mit sensiblem Blick für die Natur – eines meiner Highlights in diesem Lesejahr.

Kommentare

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Brocéliande kommentierte am 06. Juli 2021 um 19:01

**Enthält Spoiler**

 

Ich fand den atmosphärischen Roman auch großartig; allerdings hat mich das Ende erschüttert: Soweit ich das verstanden habe, hat Edith nach dem Brand in einer psychiatrischen Klinik gelebt. Und dies ihr ganzes Leben lang.

Ich hätte mir für sie ein ganz anderes Schicksal gewünscht! Dieses Ende hat mich erschüttert  - und Mary spielte in meinen Augen eher eine Nebenrolle, wenn auch nicht unbedeutend.