Rezension

Unzuverlässiger Erzähler

Das Archiv der Gefühle -

Das Archiv der Gefühle
von Peter Stamm

Bewertet mit 2.5 Sternen

„Mein ganzes Leben kommt mir plötzlich elend vor, es scheint mir, als hätte ich gar nie wirklich gelebt, als hätte ich immer nur anderen beim Leben zugeschaut“ – das sagt die Hauptfigur in Peter Stamms neuem Roman „Das Archiv der Gefühle„.

Der namenlose Ich-Erzähler ist von Beruf Archivar. Er will in der Welt Ordnung schaffen. Als er entlassen wird, nimmt er das Zeitungsarchiv, in dem er gearbeitet hat, mit. In seinem Keller arbeitet er nun weiter, archiviert was in der Welt geschieht. Das Archiv als Abbild der Welt, als „eine Welt für sich“ gibt dem Ich-Erzähler Halt und hält ihn zugleich davon ab, sich in die Welt zu begeben.

Immer öfter stellt sich der Erzähler vor, seine alte Klassenkameradin Franziska zu sehen, er imaginiert sie immer häufiger, spricht mit ihr als sei sie anwesend, schließlich verliert seine Welt der Ordnung an Gewicht. Es dauert, bis sich der Archivar überwinden kann, Kontakt zu Franziska, die inzwischen eine erfolgreiche Sängerin ist, aufzunehmen. Es entwickelt sich zu einem Eiertanz sondergleichen, da der Erzähler immer wieder imaginiert, eine Beziehung mit Franziska zu führen, Angst davor hat, dass die Realität anders als seine Träume ist.

Der Protagonist erweist sich dabei als unzuverlässiger Erzähler, man traut ihm nicht mehr über den Weg: Ist es denn wirklich so, dass der Kontakt mit Franziska stattgefunden hat? Oder ist auch das nur eine weitere Fiktion bzw. Vision? Das Opfer ist in Wahrheit der Täter, heißt es an einer Stelle des Buches. Das muss hellhörig machen in Blick darauf, was man dem Erzähler alles zutrauen muss. Fast schon Schadenfreude empfindet man als Leser, wenn der Erzähler sich schließlich jammernd darüber beschwert, dass er es nicht mag, wenn andere Leute über ihn nachdenken.

„Das Archiv der Gefühle“ bietet dem Leser viele Anlässe, über die Hauptfigur und ihre Welt nachzudenken. Das ist nicht das Schlechteste. Nicht überzeugt hat mich dabei, wie sehr sich der Erzähler vor der Kontaktaufnahme mit Franziska hineinsteigert, ebenso empfand ich die Bibelbezüge (Franziska: Ich bin die ich bin) als äußerst platt.