Rezension

Spiel mit der Zeit

Der Kolibri - Premio Strega 2020 -

Der Kolibri - Premio Strega 2020
von Sandro Veronesi

In „Der Kolibri“ schwirrt der Autor Sandro Veronesi wie der gleichnamige Vogel um das Leben von Marco Carrera. Zunächst wirkt dieser Marco wie ein eher langweiliger Nullachtfünfzehn-Augenarzt mit Affäre inklusive schmalzigen Liebesbriefen. Er wird von seiner Frau verlassen und erfährt dies nicht von ihr selbst, sondern von deren Psychoanalytiker. Wie kläglich. Dass das Leben von Marco aber mit nicht immer nur „kläglich“ war, sondern auch echte und abwegige Schicksalsschläge für ihn bereithielt und – vom Zeitpunkt des Gesprächs mit dem Psychoanalytiker ausgehen – noch zukünftig bereithalten wird, erfahren die Lesenden dieses ungewöhnlichen Romans erst mit der Zeit.

„Mit der Zeit“ ist das Stichwort, da das herausstechendste Merkmal des Romans dessen Erzähl- und Zeitstruktur darstellt. Hier wird nichts chronologisch den Lesenden auf dem Präsentierteller hingehalten, nein, die Abfolge der Lebensereignisse von Marco muss sich schwer erarbeitet werden. Zwischen den Jahren 1960 und 2030 springt Veronesi wild hin und her, wirft nicht nur prosaische Texte sondern ebenso (Liebes-)Briefe, Telefonate und Emails ein. Was jetzt wirr klingt, ist es mitunter auch, fügt sich schlussendlich aber doch zu einem einigermaßen vollständigen Puzzlebild.

Was genau der Autor mit diesem Puzzlebild, welches das schicksalhafte Leben von Marco zeigt, ausdrücken möchte, ist mir zwar bis zum Schluss nicht ganz klar, aber auch egal. Der Sprachstil von Veronesi lohnt sich einfach aufgrund seiner Art zu lesen. Wenn er über Seiten hinweg am Stück, ohne Luft zu holen, ohne Punkt aber mit vielen Kommata den Moment beschreibt, wenn ein Elternteil einen Telefonanruf des Nachts bekommt, welcher nur bedeuten kann, dass etwas Schlimmes passiert sein muss, setzt auch der Atem bei den Lesenden aus. So nimmt das Buch, nach einer ersten Eingewöhnungsphase, vor allem im zweiten Teil enorm an Fahrt auf und steht gleichzeitig auch auf der Stelle. Wie ein Kolibri eben.

Meine Kritikpunkte liegen vor allem in einer stellenweise nachlässigen Übersetzung bzw. ungünstigen Übersetzungsentscheidungen, die dem Text nicht gut zu Gesicht stehen. Und mitunter schweift der Autor dann doch auch inhaltlich zu weit ab, wird zum Zugvogel statt ein Kolibri zu bleiben. Zuletzt hat mich das letzte Kapitel mit den Nachweisen und der Danksagung gleichermaßen enttäuscht, mir aber auch gefallen. Enttäuscht, weil man desillusioniert erkennen muss, wie viele Ideen ein Autor (und wahrscheinlich auch viele andere Autor*innen) von anderen Schriftsteller*innen übernehmen. Gerade an den Stellen, die man besonders toll und kreativ empfand. Gefallen, weil der Autor damit eine mir bisher im Anschluss an einen Roman nur selten begegneten Transparenz darbietet. Es lohnt sich also bis zur letzten Seite zu lesen!

Insgesamt liegt hier ein sehr guter Roman - mit Abstrichen - vor, der durchaus lesenswert ist, mich zeitweise tief berühren konnte, aber auch mal genervt hat. Deshalb abschließend 3,5 Sterne von mir für diesen Kolibri von einem Roman.