Rezension

Hochfrequent

Der Kolibri - Premio Strega 2020 -

Der Kolibri - Premio Strega 2020
von Sandro Veronesi

Bewertet mit 5 Sternen

Ich habe dieses gebundene Buch mit seinem wunderbaren Umschlag und dem schwirrenden vielfarbigen Vogel auf dem Titelbild eine ganze Weile in der Hand gehalten und mich auf einen aufregenden Leseflug gefreut.
Der Kolibri schwirrte und flirrte mir immer wieder über die 346 Seiten des italienischen Familienromans.
Sandro Veronesi hat die sieben Lebensjahrzehnte seines Romanhelden Marco Carrera mit vielen Schicksalsschlägen, Fügungen und Wendungen seiner Familie verknüpft. Ausgehend von seiner gescheiterten Ehe sind es vor allem die Frauen (Gattin, Geliebte, Schwester, Tochter, Enkelin), die sein Leben mitbestimmen.
In Rückblenden, Erinnerungen, Briefen und Gesprächen webt der Autor ein vielschichtiges und vielstimmiges Gemälde - Selbstporträt und zugleich auch Familienbild. Darin finde ich die Themen Liebe, Sehnsucht, Verlangen, Verrat, Vergehen und Tod gefühlvoll eingebettet.
Die Geschichten und Schicksale der Figuren werden immer auf den Haupthelden Marco bezogen und aus seiner Sicht gezeigt.
Der Schreibstil ist mitunter sehr mäandernd und ausufernd, entfaltet aber zugleich eine Sogwirkung und ist immer wieder schillernd und ergreifend.
Gern nehme ich diese mühsame aber fantastische Reise auf mich, erfahre mitunter bis ins Detail Überraschendes und Unterhaltendes und vor allem Wissenswertes aus vielen Bereichen der Kultur und Lebensweise dieses bildungsbürgerlichen Familie und ihrer Freunde und Bekannten. An einigen Stellen finde ich die Schreibweise zu detailverliebt und -versessen.
Wenn ich den roten Faden Marcos verfolge und wieder aufnehme, gelingt es mir auch über Zeitsprünge hinweg, oft auch den nächsten Schicksalsschlag vorauszuahnen und daran teilzuhaben.
Zum Ende hin wird es mir mit dem Heranwachsen des "neuen Menschen" - seiner Miraijin - zu sehr zeitpolitisch kritisch und visionär-utopisch verklärt.
Das Schlussbild fügt sich zu einer Sehnsucht nach der harmonischen Familie - es gleicht einem Freundeskreis....

Die Lesereise hat mich zwischenzeitlich sehr berauscht und zu fremden, wilden, dann wieder vertrauten Gestaden geführt.
Insgesamt war es ein fulminanter Lesegenuss für mich - mit verzeihlichen Längen zwischendurch.