Rezension

Schwächster Teil der Reihe

All Saints High - Der Verlorene - L. J. Shen

All Saints High - Der Verlorene
von L. J. Shen

Hat mich im Vergleich zu den beiden anderen Teilen der Reihe schwer enttäuscht.

Ich hätte den größtmöglichen Verlust erlitten und ihn überlebt. Mir jagte niemand mehr Angst ein. 
Nicht einmal ein zorniger Gott. – 
L. J. SHEN

Vaughn Spencer wirkt auf die meisten Menschen mit seiner künstlerischen Begabung und Gefühlskälte faszinierend wie einschüchternd. Doch seine perfekte Maske bekommt Risse, als die einzige Person, die vor Jahren einen Blick auf seinen größten Fehler werfen konnte, im Abschlussjahr an seine Highschool kommt. Lenora Astalis ist schon lange nicht mehr das schüchterne Mädchen, das sich von Vaughns Erniedrigungen einschüchtern lässt. Aber als wäre das gemeinsame Schuljahr nicht schlimm genug, muss sie nach dem Abschluss auch noch eine Stelle als Vaughns Assistentin annehmen, um an die Kunst-Akademie ihres Vaters zurückkehren zu können. Was anfangs mit Rache beginnt, bringt sie schließlich nicht nur Vaughn, sondern auch seinem Geheimnis näher.

Meine Meinung 

Auch im letzten Teil ihrer „All Saints High“-Reihe ist es L. J. Shen wieder gelungen, mich von der ersten Seite an zu fesseln – nur leider nicht ausschließlich aus positiven Gründen.
Die für die Reihe typische wechselnde Ich-Erzählperspektive, Rückblenden und der unverblümte Schreibstil machen es auch in diesem Teil leicht, die widersprüchlichsten Gefühle der Protagonisten nachzuvollziehen. Ich habe mich auf diesen Band des Spin-Offs besonders gefreut, weil ich endlich eine Erklärung für den gelinde gesagt „schwierigen“ Charakter von Emilias und Vicious Sohn bekommen wollte. Die zerstörerisch wie leidenschaftliche Beziehung zwischen Lenora und Vaughn weist starke Parallelen zur Geschichte seiner Eltern auf. Ein entscheidender Unterschied ist aber, dass Lenora genau weiß, wie sie sich gegen ein Arschloch behaupten kann. Ich mag ihre Art, trotz Selbstzweifel Stärke zu zeigen und über den Dingen zu stehen. Mit Vaughn hatte ich bis zum Schluss meine Probleme, obwohl ich seine innere Zerrissenheit verstehen kann. Bei seinem verschlossenen, gefühllosen und unmöglichen (peinlichen) Verhalten blieb mir aber bis zum Ende ein Rätsel, warum er überhaupt Freunde hat oder beliebt sein soll. Die Annäherung zwischen ihm und Lenora zeigt nichtsdestotrotz packend und eindrucksvoll die hässliche Seite der Liebe auf. Ich fand es nur etwas lächerlich, dass sich erneut eine künstlerisch begabte Protagonistin ihren Gefühle bewusstwird, nachdem sie ganz gedankenlos ein Objekt ihres Love Interest gestaltet hat.

Menschliche Abgründe und heikle Themen spielen in allen Büchern von L. J. Shen eine entscheidende Rolle. Die düsteren Geheimnisse der Charaktere und ihre gebrochenen Persönlichkeiten werden vielseitig beleuchtet. Sie schocken, lassen den Leser verzweifeln, mitleiden und wie gebannt weiterlesen. So ist es auch hier, wobei ich Vaughns Geheimnis schnell erraten habe. Auch wenn ich mir insgesamt mehr überraschende Wendungen gewünscht hätte, ist die kurzweilige Handlung eine gute Unterhaltung für zwischendurch.
Was für mich allerdings gar nicht geht, ist eine Verherrlichung von Selbstjustiz in jeglicher Form, wie ich sie auch schon am ersten Teil der „All Saints High“ sowie der „Sinners of Saint“-Reihe kritisiert habe. Wenn unter die Dinge für die Familie „anpacken“ selbst Mord aus Rache gezählt wird und dann nicht mal davor zurückgeschreckt wird, dies als Tugend eines guten Ehemanns zu verkaufen, ist für mich definitiv eine Grenze überschritten. Die Botschaft, auf Rechtsstaatlichkeit und das staatliche Gewaltmonopol scheißen zu können, sofern man es sich leisten kann, die damit im Lovestory-Gewand vermittelt wird, ist keine die ich mit meiner Weiterempfehlung unterstützen möchte. Für mich war der letzte Teil der „All Saints High“-Reihe damit zumindest in dieser Hinsicht eine große Enttäuschung!