Rezension

Ein wunderbarer, trauriger, mutmachender Roman - 100 % Leseempfehlung

Kornblumenzeit -

Kornblumenzeit
von Simona Wernicke

Bewertet mit 5 Sternen

Sag mir, wo die Blumen sind… Für mich ein außergewöhnliches und trotz der schmerzvollen Geschehnisse wunderbares Buch, ich möchte es nicht mehr missen und empfehle es uneingeschränkt weiter.

Sag mir, wo die Blumen sind…
Dieses Lied von Pete Seeger, in der deutschen Version gesungen von Marlene Dietrich, fiel mir ein, als ich über dieses Buch nachdachte. Es entsprach genau meiner Gefühlsverfassung, die dieser Debütroman von Simone Wernicke bei mir hinterlassen hat. Mit ihrem Erstlingswerk muss sich die Autorin nicht verstecken, bei mir im Regal wird es seinen Platz finden zwischen all den Büchern, die ich in den letzten zwei Jahren über Krieg, Flucht, Vertreibung und unendlichen Schmerz gelesen habe. Ich erinnere mich an Christiane Hoffmanns „Alles, was wir nicht erinnern“, Susanne Bendas „Dein Schweigen, Vater“ oder Olaf Müllers „Der Himmel meiner Mutter“, auch Sachbücher wie „Das Wolfsmädchen“ von Christian Hardinghaus und „Flucht“ von Andreas Kossert stehen bei mir. Wer sich mit dieser Thematik näher befasst, wird auch Arno Surminskis Ostpreußen-Bücher kennen. Simona Wernicke gehört für mich ab sofort zu den Autoren, die mir und meiner Seele am nächsten kamen.
Der Umschlags- und der Annotationstext geben eine kurze Inhaltsangabe, erzählt wird in diesem Buch die Familiengeschichte der Kühnapfels von 1928 bis in die Nachkriegszeit. Was für mich den Roman so besonders macht, ist der erste Teil mit den ausführlichen Schilderungen der Lebensbedingungen, wie sich im kleinen Ort Locken in Ostpreußen eine Familie bildet und zusammenwächst, wie es im Haus und auf dem Hof aussieht, welche Anstrengungen nötig sind, um jedes Jahr wieder die Ernte einzufahren, wie zum Jahresende dann doch alle wieder glücklich in der warmen Stube Weihnachten feiern. Dieses ganz normale, harte, trotzdem schöne ostpreußische Leben wird wunderbar erzählt. Die Dialoge sind lebensecht und machen einen großen Teil der Authentizität dieses Buches aus. Der Leser lernt neue Begriffe, weiß bald, dass der raue ostpreußische Charakter eine ganz eigene, von vielen liebevollen Diminutiven durchwobene Sprache benutzt und die Generationen einen enormen Zusammenhalt pflegen. Dass dieses ostpreußische Land auch noch in den 1930er Jahren in vielem rückständig und unterentwickelt ist, ich denke nur an die Torftoilette unter der Treppe der Kühnapfels oder die erst spät ins Haus verlegten Wasser- und Stromversorgungen, das ist uns als heutigem Leser so fremd wie der Mond.
Die Familie aber wächst und wächst, im Hintergrund wächst der Nationalsozialismus heran. Die Kühnapfels ahnen, dass die politische Entwicklung und der Kriegsbeginn Folgen auch für ihre Familie haben werden. Das wird im zweiten Teil dieses Buches so entsetzlich realistisch geschildert, dass einem der Atem stockt. Ich werde hier auf diesen zweiten Teil nicht eingehen, einerseits denke ich, dass die meisten Leser ahnen, was ab 1945 auch dieser Familie nicht erspart bleibt, andererseits soll auch durch Spoilern kein Leser vom Weiterlesen abgehalten werden.
Simona Wernicke beschreibt ihre eigene Familie, man bemerkt eine liebevolle, aber auch kritische Betrachtung der Hauptpersonen. Da ist Carl, der Bäckermeister, während der Ausbildung in Berlin einem Flirt nicht abgeneigt, später im Eheleben reißt er sich zusammen, aber er spricht gern und oft auch dem Alkohol zu. Da hilft auch das nette Wort vom Meschkinnes nicht, und der Bananenklub ist eben auch nur ein Stammtisch in der Kneipe. Käthe, seine fleißige und unermüdliche Ehefrau, kann nur froh sein, dass Carl trotz Schnaps immer pünktlich um drei in seine Backstube geht und eine sehr große Portion Verantwortungsgefühl für seine Familie hat. Einen gehörigen Schrecken bekommt er im Laufe der Jahre gleich zweimal, durch seine Unachtsamkeit wird Söhnchen Rudi schwer verletzt und zu viel Schnapsche im Kopf ist fürs Autofahren auch nicht förderlich.
Die Kinder sind recht unterschiedlich, zwischen die Jungen hat sich ein einziges Mädchen, Doris, geschummelt, immer wieder ist die Mutter froh, wenigstens ein „pflegeleichtes“ Kind zu habe. Das sechste Kind, bei weitem kein Wunschkind von Käthe, stirbt früh und hinterlässt eine tiefe Traurigkeit, erst später werden alle denken, was dem kleinen Uli wohl alles erspart geblieben ist.
In den ersten Jahren des Krieges ist in Ostpreußen noch nicht so viel von den Einschränkungen und Schwierigkeiten zu bemerken, noch gibt es Ausflüge zu den Großeltern, Fahrten mit der Eisenbahn oder dem Schiff auf dem Oberlandkanal, Schlittenfahrten und schöne Geburtstagsfeiern. Doch nach und nach macht sich ein großes Unbehagen breit, besonders die sensible Käthe sieht die drohenden Gefahren, Carl versucht mit ewigem Optimismus, der Dinge Herr zu bleiben. Je näher die Rote Armee kommt, umso mehr wird den Menschen abverlangt, erst keine Autofahrten, keine privaten Bahnfahrten mehr, dann wird das Auto konfisziert, später sogar Pferde.
Als die ersten Gerüchte über das Massaker in Nemmersdorf, wo die Rote Armee erstmals 1944 auf deutsche Gebiete vorstieß, auch in Locken bekannt werden, ahnt noch niemand, dass die ekelhafte Propaganda von Reichsminister Goebbels nicht weit von der Wahrheit über die verrohten Methoden der künftigen Sieger entfernt war. Und so warten alle Anfang Januar 1945 auf den erlösenden Befehl zur Flucht. Gauleiter Koch aber wartet damit so lange, bis es fast zu spät für viele Menschen in Ostpreußen ist. Vielen gelingt es nicht einmal mehr, in einem Flüchtlingstreck mitzufahren. Hier beginnt der zweite Teil des Romans.
Zur Ausstattung des Buches: Das Umschlagbild ist aus einem Panoramafoto entstanden, erst wenn man sich das Buch aufgeschlagen mit dem Inhalt nach unten auf den Tisch legt, sieht man die ganze herrliche Landschaft, auch die titelgebenden Kornblumen fallen einem dann noch mehr auf. Dieses Bild gibt das wieder, was die Vertriebenen als die „alte Heimat“ beschreiben, wenn man es lange genug betrachtet, kommen einem die Tränen, denn diese verlorene Heimat, die haben nur noch wenige im Kopf und im Herzen. Simona Wernickes Roman wird das Vergessen und Verschwinden hoffentlich ein wenig aufhalten. Die Karte im hinteren Umschlag fand ich nicht sehr hilfreich, denn die Orte Koschainen und Locken fand ich dort nicht, da hätte der Grafiker ein wenig nachhelfen können. Als Nachkomme von ehemals in Meseritz (Neumark) wohnenden Großeltern und Mutter bin ich in Ostberlin aufgewachsen und kenne viele im Buch verwendete Begriffe. Aber für andere Leser, gerade auch der jüngeren Generation, würde ich ein kleines Ostpreußisch-Hochdeutsches Glossar am Ende einfügen. Buchgestaltung und Typographie gefallen mir recht gut, die Schrift ist nicht zu klein, so dass die 500 Seiten auch für Brillenträger gut zu bewältigen sind. Etwas verwundert war ich über den Gestaltungsbruch im zweiten Teil, in dem die Kapitelnummern plötzlich mit Überschriften erweitert wurden. Über die Schriftauswahl für diese Kapitelüberschriften kann man geteilter Meinung sein, mir gefällt sie nicht. Last not least hätte ich gern einige Fotos in diesem Buch gesehen, die Familie, das Haus, der Ort Locken sind wunderbar beschrieben, aber einige Bilder hätten noch ein Sahnehäubchen auf das Buch gegeben.
Zum Schluss erzählt Simona Wernicke dann in ihrem Epilog noch über das Leben ihrer Familienmitglieder bis in die heutige Zeit. Ein schöner, wenn auch teilweise trauriger Abschluss. Dass sie mit ihrem Vater über all die Ereignisse, die im Buch so lebensnah beschrieben werden, auch sprechen konnte, mit ihm Locken besucht hat und so die Familiengeschichten und -traditionen erhält, finde ich das Schönste und Bewundernswerteste an diesem Buch. Danke, Simona Wernicke!
Fazit: für mich ein außergewöhnliches und trotz der schmerzvollen Geschehnisse wunderbares Buch, ich möchte es nicht mehr missen und empfehle es uneingeschränkt weiter.