Rezension

Dem White Trash der USA Gehör schenken

Demon Copperhead -

Demon Copperhead
von Barbara Kingsolver

Wow! Gleich zwei Preise hat Barbara Kingsolver mit diesem Roman abgeräumt! Den Pulitzer Prize und den Women’s Prize for Fiction. Das sind schon mal zwei Auszeichnungen, die meine Erwartungshaltung sehr hochgehängt haben. Und sie hat mich überzeugt. Was macht das Buch so gut, um mal gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Das Innenleben darzustellen wie es bei einem Heranwachsenden aussieht, der auf so vielen Ebene eine suboptimale Startposition bekommen hat. Barbara Kingsolver schafft es sehr differenziert hier unsere Wahrnehmung für Randfiguren unserer Gesellschaft zu beleuchten und denen eine Stimme zu geben. Natürlich ist der Roman auch voll von Obszönitäten und es gibt Textstellen, die fernab meiner eigenen Lebensrealität sind. Aber genau darum geht es aus meiner Sicht, dass was die Welt alles bereit hält zu reflektieren und anzuerkennen!

Es geht um den titelgebenden Junge, Damien, den alle nur Demon (Teufel) nenne. Schon hier eine unfassbare Tiefe, die sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht. White Trash mit roten Haaren, Copperhead. Er selbst Sohn einer drogensüchtigen Teenie-Mutter, Vater schon bei der Geburt nicht mehr unter den Lebenden wächst in einem Trailerpark in Virginia auf. Als die Mutter auch stirbt, gibt es nur noch den uninteressierten Stiefvater.

Wir begleiten Demon auf seinem Lebens- und Leidensweg und mit diesem erzählt Barbara Kingsolver noch die großen strukturellen Problemfelder der USA in diesem Milieu. Diese hat mit struktureller Armut zu tun und hängt mit der Opioid-Epidemie zusammen, was natürlich auch dann Auswirkungen zeigt bei Pflegefamilien und dem ganzen Thema Kinderschutz.

Als ich die letzte Seite gelesen hatte, wunderte ich mich ein wenig, dass die schiere dicke des Kloppers mich nicht mental erschlagen hat. Mit Nichten, ich fand es hatte den richtigen Umfang und das sag ich nicht oft zu solch Seitengewaltige Werke! Immerhin über 800 Seiten!

Der große Vergleich zu Dickens Roman David Copperfield, finde ich ganz persönlich etwas schwierig, aber das mag auch an mir liegen. Ich finde, dass Demon Copperhead diese Parallele nicht braucht, auch wenn beide Romane im Kern einen jungen Mann im Fokus haben, der am Rande seiner Familie und der Gesellschaft lebt.

Ich hoffe nun, dass andere Bücher von Barbara Kingsolver wieder aufgelegt werden in Deutschland, wie die „Giftbibel“, auch wenn sie thematisch sehr anders sind.

Kommentare

RuKeka kommentierte am 09. Februar 2024 um 15:24

Fenster und Spiegel zugleich 

 

Barbara Kingsolver, 1955 geboren und in Kentucky aufgewachsen, ist eine anerkannte und mehrfach ausgezeichnete Autorin. Ihr neunter Roman „ Demon Copperhead“ wurde zu einem der „ 10 besten Bücher des Jahres 2022“ gekürt.
Für den Protagonisten und Ich- Erzähler Demon sind die Chancen von Anfang an schlecht. Seine junge Mutter ist drogenabhängig und arm. Die beiden leben in einem Trailer am Rand einer ehemaligen Bergarbeitersiedlung. Der Vater starb auf mysteriöse Weise vor Demons Geburt. Noch übler wird die Situation, als Demons Mutter heiratet. Der Stiefvater tyrannisiert und misshandelt Mutter und Sohn. Und dann stirbt die Mutter an Demons elftem Geburtstag an einer Überdosis Oxycontin.
Demon kommt in verschiedene Pflegefamilien, doch her erfährt er keine Liebe und Zuwendung. Von den einen wird er als billige Arbeitskraft ausgenutzt, die anderen sind nur am Pflegegeld interessiert.
Doch endlich scheint sich das Blatt zu wenden. Die Großmutter väterlicherseits verschafft ihm Zugang an eine High School und einen Platz im Haus des Footballtrainers der Schule. Für kurze Zeit wird Demon ein gefeierter Footballstar, bis ein Sportunfall die Karriere vorzeitig beendet.
Die Schmerzmittel, die er großzügig verordnet bekommt, führen in die Sucht und Abhängigkeit mit all ihren schrecklichen Folgen.
Es ist eine Zeit voller Leid, Gewalt und Verlust, aus der sich Demon nur mit der Hilfe guter Freunde befreien kann. Das Ende lässt Hoffnung aufkommen. 
Diese Lebensgeschichte erzählt Demon im Rückblick. Sein schnoddriger, oftmals bissig- witziger Ton macht das Geschilderte einigermaßen erträglich. Denn es ist manchmal kaum zum Aushalten, was Demon und anderen Kindern angetan wird. Erschreckend zu sehen, wie Armut, Hunger, Gewalt und Verachtung das Leben so vieler bestimmt. Dazu kommt das institutionelle Versagen der zuständigen Behörden, die die ihnen anvertrauten Kinder nur verwalten. 
Sicher, es gibt den Zusammenhalt der Familien und auch immer wieder Erwachsene, die sich Demons annehmen. 
Demon selbst ist ein Kämpfer, der sich nicht unterkriegen lassen will. Aber auch er trifft falsche Entscheidungen, lässt sich mit Menschen ein, die ihm nicht guttun. 
Die Autorin zeigt dabei sehr anschaulich, welche Auswirkungen Drogen auf die Konsumenten, aber auch auf deren Umfeld haben. Was es heißt, wenn sich alles nur noch darum dreht, Geld für den nächsten Kick zu verschaffen.
Barbara Kingsolver reagiert hier auf die Opioidepidemie in den USA . Durch das leichtfertige Verschreiben von Oxycontin und ähnlichen Schmerzmitteln stieg die Anzahl der Drogenabhängigen und Drogentoten enorm. Eine ganze Generation Kinder wächst ohne Eltern auf, weil diese entweder abhängig, im Knast oder tot sind. Die Pharmaindustrie macht ihre Gewinne auf Kosten der Ärmsten des Landes.
Ihr anderes großes Thema sind die Abgehängten dieser Region, die sog. „ Hillbillys“, auf die das andere Amerika herabschaut. Sie erzählt die Geschichte dieser Gegend, benennt die Schuldigen, die das Land heruntergewirtschaftet und die Bewohner ohne Perspektiven zurückgelassen haben. 
Die Autorin hat sich für ihren Roman von Charles Dickens „ David Copperfield“ inspirieren lassen. Wie der englische Autor übt auch sie scharfe Kritik an den sozialen Missständen im Land und beleuchtet die verheerenden Auswirkungen von Armut und Perspektivlosigkeit auf das Leben von Kindern und Jugendlichen. 
Man muss aber den englischen Klassiker nicht kennen, denn dieser Roman hier steht für sich. 
Barbara Kingsolver wurde für „ Demon Copperhead“ 2023 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, gemeinsam mit Hernan Diaz, der die Auszeichnung für seinen Roman „ Treue“ erhielt.
Ich habe beide Bücher gelesen und auch wenn „ Treue“ mit seiner originellen Struktur und seinen unterschiedlichen Erzählformen literarisch ambitionierter sein mag, so halte ich „ Demon Copperhead“ für das wichtigere Buch. Wer Amerika, die Zerrissenheit des Landes und die Probleme seiner Bewohner besser verstehen möchte, der tut das nach der Lektüre des Romans.
Dieses Buch soll, so der Wunsch der Autorin, „ Fenster sein und Spiegel“. Die einen sollen verstehen und die anderen sich gesehen fühlen. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch und seine Botschaft von vielen gelesen und verstanden wird. Und dass sich niemand von seinem Umfang abschrecken lässt.