Rezension

Vom Glück inmitten der Trauer

Flamingos im Schnee - Wendy Wunder

Flamingos im Schnee
von Wendy Wunder

Bewertet mit 5 Sternen

Campbell Cooper lebt in Osceola County/Florida, dort wo Urlauber sich von einem Besuch in Disney World die Erfüllung ihrer Träume erhoffen. Die Menschen brauchen Wunder, meint Campbell. Für die Mitarbeiter ist der angeordnete Frohsinn wenig wundervoll. Sie müssen sich bei der Arbeit und sogar im Privatleben rigiden Regeln der Themenpark-Betreiber unterwerfen, um die Illusionen der Besucher zu erhalten. In einem der Hotels trat Cams verstorbener Vater als Feuertänzer auf. Die ihm verordnete Rolle als Berufs-Insulaner breitete sich bis ins Privatleben der Familie Cooper aus, so dass die Familie glauben könnte, ihre Vorfahren stammten wirklich aus Hawaii. Mit einer Familien-Jahreskarte für den Arbeitsplatz der Eltern verlieren Träume irgendwann ihre Wirkung. Außer einem Job als angestellte Comicfigur bietet sich für Mädchen wie Cam nur die Perspektive, Kinder zu bekommen und ihr Leben in einem Trailerpark zu verbringen. Cam hofft nicht mehr auf Wunder. Sie leidet an einem Neuroblastom, einer Krebserkrankung, bei der kleine Kinder realistische Überlebenschancen haben. Jugendliche jedoch nicht. Cam geht es miserabel; sie will keine Reisen zu Wunderheilern mehr, keine Versuche mit ungetesteten Wundermitteln und keinen aufgesetzten Optimismus, damit die Gesunden nicht unter Cams Krankheit leiden müssen. Cam sieht erbärmlich mager aus. Doch ihre Mutter kann sich noch nicht damit abfinden, dass ihre ältere Tochter keine Hulatänzerin mit barocken Formen werden wird. Lily, seit der Chemotherapie in der Klinik Cams beste Freundin und Schicksalsgenossin, glaubt an die Macht handgeschriebener Wunschlisten. Wer nicht mehr lange zu leben hat, möchte vielleicht einfach wissen, wie sich der erste Sex anfühlt. Cam weiß, dass sie keine Zukunft hat, und muss die Illusion ihrer Mutter ertragen, für Cam gäbe es ein normales Leben samt Studienbeginn im Herbst. Mutter Alicia will mit einem letzten Aufbäumen gegen Cams Krankheit die Familie nach "Promise", einen mystischen, heilkräftigen Ort in Maine transportieren. Cam müsste protestieren und einfach nur Ruhe für sich fordern, doch sie will Mutter und Schwester nicht die Hoffnung rauben.

Natürlich ist Maine als Region ebenso Klischee wie Florida. Hier werden Touristen mit Hummeressen und gesunder Seeluft geködert. Den versprochenen magischen Ort, der auf keiner Landkarte verzeichnet ist, findet Alicia, indem sie mitten im Touristen-Nepp die richtige Abzweigung durch ein Gebüsch nimmt. "Sie [Cam] war noch nie an einem Ort gewesen, der nicht vorgab, etwas anderes zu sein." (S. 113) stellt Cam beeindruckt fest. Auch wenn einige Leute wie aus dem Katalog eines Outdoor-Ausstatters wirken, empfindet Cam den kleinen Ort, in dem sie sich den Sommer über niederlassen, und seine Bewohner als authentisch. Die Begegnung mit Asher, der ganz anders lebt als Cam das aus ihrer schönen künstlichen Welt in Florida kennt, bringt Cam dem Abhaken ihrer Liste letzter Wünsche einen bedeutenden Schritt näher. Cam macht in Promise eine erstaunliche Wandlung durch. In diesem Sommer dreht sich nicht mehr alles um sie und um die tödliche Krankheit. Cam nimmt zum ersten Mal die Last ihrer Mutter wahr, die ihre Töchter allein durchbringt, und sie erkennt, dass Geschwister von schwer kranken Patienten immer erst an zweiter Stelle kommen.

Cam, mit dem Namen einer Dosensuppe geschlagen, zeigt sich als hinreißend sarkastische Person, für die diplomatisches Verhalten offenbar ein Fremdwort ist. Nach einer Odyssee durch diverse Behandlungsmethoden und ihrer Begegnung mit Wohltätern des "Krebs-Establishment" ist das Mädchen mit allen Wassern gewaschen und fähig selbst einen erfahrenen Pychotherapeuten auszutricksen. Cams Lust, einfach bösartig rumzupubertieren, weil sie weiß, wie sie andere verletzen kann, macht es Wendy Wunders Lesern leicht, nicht vor Mitleid mit Cams Schicksal in Tränen zu zerfließen. Auch wenn das Buch etwas zu offensichtlich auf der erfolgreichen Welle von "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" reitet, ist es für mich ein großartiger Roman im richtigen Moment und schon jetzt eines der beeindruckendsten Bücher des Jahres.

Zitat
"Aber sie sind doch Dr. Handsome", erwiderte sie. Sie wusste, dass er am ausgeglichensten war, wenn er in seinem medizinschen Wissen aufging. "Packen Sie die Emotionen weg und kramen Sie Ihr Medizinerkauderwelsch hervor. Sie müssen ganz kühler, knallharter Wissenschaftler sein. Sagen Sie Sachen wie Malignität oder subkutan und so was. Dann fühlen Sie sich besser." "Die Wissenschaft reicht in diesem Fall nicht aus, Campbell-Suppe. Was du brauchst, ist ein Wunder." (S. 33)