Rezension

Lev und Kato...

Lichtungen
von Iris Wolff

Bewertet mit 5 Sternen

Ein ungewöhnlicher Aufbau, eine wundervoll feine und stilsichere Sprache, ein leiser, melancholischer, poetischer Roman, ein Kleinod...

Als der elfjährige Lev über Wochen ans Bett gefesselt ist, wird ausgerechnet die gescheite, aber von allen gemiedene Kato zu ihm ans Krankenbett geschickt, um ihm die Hausaufgaben zu bringen. Zwischen dem ungleichen Paar entsteht eine unverbrüchliche Verbindung, die Lev aus seiner Versteinerung löst und den beiden Heranwachsenden im kommunistischen Vielvölkerstaat Rumänien einen Halt bietet. Ein halbes Leben später läuft Lev noch immer die Pfade ihrer Kindheit ab, während Kato schon vor Jahren in den Westen aufgebrochen ist. Geblieben sind Lev nur ihre gezeichneten Postkarten aus ganz Europa. Bis ihn eines Tages eine Karte aus Zürich erreicht, darauf nur ein einziger Satz: »Wann kommst du?« (Verlagsbeschreibung)

Lev und Kato - eine langjährige Freundschaft in immer neuen Facetten. Zu Beginn begleitet der Leser Lev, wie er seiner Freundin hinterher reist, als ihn ihre Karte erreicht mit dem Satz: "Wann kommst du?" Kato war lange auf Reisen, um sich selbst zu finden, sehnt sich nun aber offenbar nach ihrem Jugendfreund, reist ein wenig gemeinsam mit ihm weiter und beschließt schließlich, mit ihm zusammen nach Rumänien zurückzukehren. Dies ist das Ende von dem, was Iris Wolff uns über das so ungleiche Paar berichten möchte. Aber beileibe nicht das Ende des Romans.

Dieser beginnt nämlich mit dem letzten Kapitel dieser zeitlosen Freundschaft und wird von da an rückwärts erzählt, immer tiefer hinein in die Vergangenheit. Ein ungewöhnlicher Aufbau, an den ich mich zunächst gewöhnen musste - tauchen doch in den aktuellen Abschnitten immer schon Namen und angedeutete Begebenheiten auf, die erst später vorgestellt werden. Aber mit zunehmender Lektüre fand ich diesen Aufbau doch auch immer reizvoller, gerade weil vieles im Nachhinein deutlicher und nachvollziehbarer wird. In jedem Fall weckte nicht zuletzt dieser Aufbau die Lust, diesen Roman unbedingt auch ein zweites Mal lesen zu wollen, das schafft nicht jedes Buch!

 

"Diese Stille, dachte Lev, war eine, die aus den Tönen kommt, die noch von ihnen erzählt, die satt ist und voll, die sich erst verflüchtigen muss, wie Rauch." (S. 114)

 

Iris Wolff hat hier einen sehr besonderen Roman vorgelegt, melancholisch, leise, poetisch, in einer wundervoll feinen und stilsicheren Sprache. Auch wenn die Figuren, selbst Lev und Kato, für mich lange Zeit eher auf Distanz blieben, wurden die Gefühle, Gedanken, Motive der Charaktere doch deutlich. Dabei geht es nur vordergründig um die sich stets wandelnde Freundschaft zwischen Lev und Kato. Eingebettet und gerahmt wird diese Freundschaft von einer Vielzahl von Themen wie Identität, Herkunft, die wechselnden und oft bedrohlichen politischen Verhältnisse in Rumänien.

Dabei belässt es Iris Wolff oft nur bei Andeutungen, die dennoch allmählich ein Bild von den Lebensbedingungen zu den verschiedenen Zeiten in Rumänien entwickeln. Hier wird häufig gerade genug verraten, damit die Gedanken des Lesers in die richtige Richtung gelenkt werden. Dies erfordert jedoch auch ein unbedingt sorgfältiges und konzentriertes Lesen, um keine Details zu verpassen. Interessant auch die verschiedenen Charaktere, die alle eine unterschiedliche Art haben, mit den unveränderlichen Gegebenheiten umzugehen: derjenige, der flieht, diejenige, die sich arrangiert und immer auf dem Stand der Dinge ist, um andere zu warnen, der Mitläufer, diejenigen, die sich im Schatten ducken und hoffen nicht entdeckt zu werden usw. Alles eine Frage der Identität, wer will ich sein, was bedeutet Heimat für mich, wohin will ich, welchen Preis bin ich dafür bereit zu zahlen.

Neben der Faszination für den Aufbau und die leise aber präzise und bildhafte Sprache konnte mich die Erzählung gegen Ende dann doch auch noch berühren. Dies gab letztlich den Ausschlag für den letzten halben Stern - und damit für ein Jahreshighlight, das ich unbedingt weiterempfehle!

 

© Parden