Rezension

Klettern Sie mit zwei Icherzählern mutig in eine phantastische Welt

Die Jahre ohne uns -

Die Jahre ohne uns
von Barney Norris

Bewertet mit 4.5 Sternen

Zwei Fremde treffen aufeinander, beide um die 70 Jahre alt. Aus der Ichperspektive erzählt die weibliche Person von Höhen und Tiefen im Leben, vom Scheitern und Neuanfangen. Weil sie geordnete Systeme und Worte liebt, besteht ihr Text aus Assoziationen zu Schlagwörtern. Damit möchte sie vermitteln, dass es lohnt, sich zu erinnern. Ihr Springen von einem Begriff zum anderen könnte jedoch beispielhaft für das assoziierende Erinnern alter Menschen stehen.

Dass ihre Idee der Enzyklopädie verknüpfter Anekdoten damals von der Open University nicht als Abschlussarbeit angenommen wird, ist einer der Tiefpunkte in ihrem Leben. Ihre Pläne waren hochfliegend; ihr Projekt sollte anderen Menschen Teilhabe ermöglichen und ihnen den Zugang zu ihrer Epoche erleichtern. In ihrer Kindheit (in der ihr Vater überraschend verschwand) lernte man noch, sich selbst nicht wichtig zu nehmen. Zum Ende ihres Lebens hin kann sie ihren Hang zu negativen Urteilen einordnen und hat gelernt, dass Traumata und die Neigung zu Depressionen an die Nachkommen vererbt werden. Die Liebe der Unbekannten zu Musik gibt dem Roman eine Tonspur; das sorgfältige Notieren der gehörten Stücke wird ihr schon immer Halt gegeben haben. An der Veränderung der Urteile der Erzählerin lässt sich ihr Altern nachvollziehen. Als Leser folgt man einer sprachlich gewandten Figur, die mit Ungesagtem eine geheimnisvolle Atmosphäre schafft – bis ihr Gesprächspartner auftaucht.

In einer Hotelbar wird sie förmlich überrumpelt von einem Mann, der sich nicht kurzfassen kann, sondern – ebenfalls in der Ichform - seine Geschichte nur komplett und in der richtigen Reihenfolge hervorbringen kann. Auch er ist ein eloquenter Erzähler, der von einer Zeit berichtet, als er noch nicht erkennen konnte, wie glücklich er damals war. Seine Erlebnisse könnten einen eigenständigen Roman füllen – dabei wartete ich beim Lesen darauf, endlich der Verbindung zwischen beiden Figuren auf die Spur zu kommen, die sie in diese Bar geführt hat. Während "ihr" Geheimnis alltäglich zu sein scheint, ist "seins" offenbar riesengroß, phantastisch und verschlungen.

Die Auflösung konnte mich verblüffen, wie auch die Sensibilität, mit der ein 1987 geborener Autor die Marotten zweier älterer Personen nachempfindet. Wer überzeugt ist, dass man durch einen Schrank in phantastische Welten klettern kann, sollte hier zugreifen.