Rezension

Gedichte. Informationen. Erfahrungen.

Hässlichkeit
von Moshtari Hilal

Bewertet mit 4 Sternen

Geht schon unter die Haut, irgendwie.

„Hässlichkeit“ von der Autorin und Künstlerin Moshtari Hilal, ist ein verstörendes Buch. Um einen Roman handelt es sich keinesfalls und ein Sachbuch ist es ebenfalls nicht. Essay trifft es als Gattung wohl am ehesten; obwohl es künstlerische Anteile hat, Fotografien, lyrische und bildgebende Werke der Künstlein herself. Die Gedichte und die Fotos sprechen mich gleichermaßen leider nicht an bis auf eine kleine Fotoreihe mit Selbstbildnissen der Autorin, sozusagen „frühe Automatenfotos“, für die sie in ihrem Umfeld mit "Pferdefresse" beschimpft wird.
Die Autorin geht von eigenen diskriminierenden Erfahrungen bezüglich ihres Äußeren, also ihrer Körperbeschaffenheit aus; sie wurde schon als junges Mädchen verspottet wegen einer großen Nase und zu starker dunkler Körperbehaarung. Allerdings, das ist Fakt, hänseln Jugendliche einander immer wegen irgendwas.
Ich mag den Dialog im Buch:
Junger Mann: „Du hast Haare in der Nase.“
Junges Mädchen: „Du auch“.
Freilich geht der Dialog unerfreulich weiter: „I c h  bin ein Mann“.
Davon handelt der Essay. Davon, wie das Aussehen von Frauen durch Männer festgelegt wurde und wird, die Frau ist ein Objekt männlichen Begehrens und männlicher Gestaltungsmacht. Das Buch handelt davon wie Frauen zu sein haben, um dem männlichen Auge zu gefallen. Und wie doof das ist. Nein, wie schlimm das ist. Wie entwürdigend das ist. Und wie sehr wir Frauen uns dies bewusst machen sollten und uns von dem Zwang „schön sein zu müssen“ befreien sollten. Aber nein. Davon handelt der Essay leider gar nicht. Letztgenanntes sind nur die Schlussfolgerungen, die aus Vorgenanntem zu ziehen wären, die die Autorin aber gar nicht zieht, im Gegenteil, sie unterwirft sich dem gängigen Schönheitsideal, eifert ihm nach mit allerlei kosmetischen Hilfsmitteln und leidet darunter, dass sie diesem Ideal nicht entspricht. Jedenfalls in ihrer Jugend, heute mag das anders aussehen!
Die besagten Automatenfotos zeigen nämlich ein dunkelhaariges junges Mädchen mit markantem Profil, sehr attraktiv, sehr apart, aber nicht hübsch im landläufigen Sinne. Nicht puppenhübsch, Hilal ist keine Barbie. Aber wer will eine Barbie sein? Wieso haftet ein so entfremdetes Selbstbild an der Autorin, wieso glaubt eine so offensichtlich aparte Erscheinung an die eigene Hässlichkeit? Wem glaubt sie, was ihre Person angeht? Wieviel Druck auf den weiblichen Körper übt die kapitalistische Gesellschaft aus? Wer definiert eigentlich, was Schönheit und was Hässlichkeit ist? In Hilals Fall ist es sogar die eigene Familie, die Druck ausübt, weil sie die Puppenschöheit als Ideal verinnerlicht hat.
Im Einzelnen und Besonderen geht es um Diskriminierung wegen einer zu großen Nase und starker dunkler Körperbehaarung. Fände man die Thematik lustig und denkt man, hei, vielleicht ist die junge Frau ein wenig zu sensibel, vergeht einem das Lächeln, wenn die Autorin in sachbuchartigen Anteilen über ihre eigene Geschichte hinaussieht und den Blick des Lesers in die Historie lenkt. Die Geschichte der Medizin, also die Medizinhistorik ist voller grauenhafter Vorkommnisse. Die Geschichte der Gesichtsplastik also der Wiederherstellungschirurgie und der Schönheitschirurgie ist davon nicht ausgenommen. Auch darüber schreibt die Autorin. Anekdotenhaft. Nicht repräsentativ. Trotzdem erschütternd. Skandalös.
Zudem informiert der Essay über die  Ausbeutung der Frauen durch die Kosmetikindustrie, des weiteren über Ausgrenzung wegen Krankheit, über Ausgrenzung wegen Sterbens und der Einsamkeit des Todes. Und über die Ausnutzung und Ausbeutung des Körpers über den Tod hinaus, den Voyeurismus an den Toten im Dienste von Kunst und Wissenschaft. 

Der Kommentar: 
Die Mischung des Essays, Erfahrungsbericht, Sachbuchanteil, Fotos, Lyrik, macht das Ganze trotz des emotionalen Themas leicht zu ertragen, bewirkt aber auch Befremden, da man einerseits bei den Erfahrungen der Protagonistin bleibt (Nase, Haare), andererseits über sie als Person kaum etwas erfährt. Man will aber mehr erfahren. Was ist das für ein Mensch? Wie wird er fertig mit dem, was ihm widerfährt? Wie hält er stand oder bricht er? Diese Auseinandersetzung würde einen Roman ausmachen. Die bloße Aufzählung im Sachbuchbereich von Nase, Haare, Krankheit, Tod ist gelinde gesagt eine seltsame, willkürliche Auswahl. Was ist mit großen Füßen, mit Kleinwuchs oder Übergewicht? Was ist mit übermäßigem Schweißgeruch? Was ist mit Haarlosigkeit? Kleine Brüste, große Brüste, Magersucht?

Dass Äußerlichkeiten der Anlaß für Ausgrenzung sind und sein können, ist wohl unbestritten. Alles, was anders ist, ist fremd. Und auf das Fremde reagiert man befremdet. Die Autorin verkürzt jedoch die Ursachen von Körperdiskriminierung auf das Erbe des Kolonialismus. Mit anderen Worten, „die Weißen sind schuld“. Oder der Westen. Dabei ist die Ursache wohl eher in weltweiter Misogynie zu finden. In China wurden den Frauen die Füße gebunden, in Afrika wurden/werden Holzteller in Lippen gesetzt und Halsringe verlängern einen weiblichen Hals wie den Hals einer Giraffe und dürfen zu Recht Folter genannt werden.
Die Verkürzung darauf, dass an allem der Kolonialismus schuld sein sollte, ist schade und erinnert an die übliche Tirade "ihr seid die Bösen". Natürlich hatte der Kolonialismus seinen Anteil, denken wir an die Verpönung jüdischer Nasen. Aber auch irische Nasen standen nicht hoch im Kurs. Jede Nation hat einen anderen Schönheitskult! Schönheit/Hässlichkeit und sein gesellschaftlicher Kontext ist im weitesten Sinne immer auch eine politisch brisante Thematik. Wer und was prägt unser Selbstbild? Wer darf mein Selbstbild prägen und im weitesten Sinne mein Selbstwertgefühl? Es ist auch meine eigene Verantwortung, welchem Diktat ich mich unterwerfe, wem ich erlaube, Werte für mich zu setzen. 

Dennoch ist es wichtig, sich neu bewusst zu machen, welche Industrien an dem Körperbild der Frauen (aber heute nicht mehr nur der Frauen)
herumwerkeln, wer verdient alles damit? Es dürften nicht wenige sein, nicht zuletzt sind sogar die Kunst und die Künstler mitverantwortlich, die alten Maler bildeten mit Vergnügen Nacktheit ab und setzten damit Standards, heute setzt die PornographieIndustrie frauenverachtende Bilder in die Köpfe der Gesellschaft, Frauen sind Objekte, ist ihre Wahrheit. Nicht, dass Pornografie Kunst wäre. Aber selbst mit toten Körpern kann man noch Geschäfte machen,  z.B. kann man mit „Körperwelten“ gut verdienen oder Aufmerksamkeit erregen oder sehr bekannt werden wie Teresa Margolles, eine mexikanische Künstlerin, die mit Leichenresten arbeitet. Man mag es Auseinandersetzung mit dem Tod nennen, Aufklärung oder aber Toten- bzw. Leichenschändung. 

 Was ich in dem Essay insgsamt sehr vermisse, sind Wertungen über jene eine hinausgehend, dass das Erbe des Kolonialismus an allem schuld sei. Das stimmt einfach nicht. Man kann nicht ewig den Kolonialismus für alles verantwortlich machen, man muss dem entwachsen und selber Verantwortung übernehmen.
Ich vermisse sowohl den Aufruf zum Widerstand wie eigene Reflexionen, Abgrenzungen, Perspektiven. Die Social Media, die Influencerszene, die gesamte Mode- und Kosmetikindustrie können doch nur leben, wenn „die Frauen“ mitmachen, die Wünsche des männliche Klientels bedienen und miteinander in Konkurrenz treten. Hier ist noch viel zu tun. Wer ist die Schönste im ganzen Land? Solange Frauen darum wetteifern, ein Schönheitsköniginnenkrönchen zu ergattern, weil man damit Gold scheffeln kann, solange also Frauen sich für ein gewisses Schönheitsideal verkaufen, solange wird sich gar nichts ändern. Wahrscheinlich kennt Hilal den legendären Disput zwischen Alice Schwarzer und Verona Pooth nicht. Frauen können Frauen in die Pfanne hauen. Aber Frauen haben es in der Hand. Werdet mündig, Frauen! Wehrt euch. Lasst euch nicht länger kaufen. Solche Aufrufe fehlen im Buch und kosten einen ganzen Stern. 

Fazit: Moshtari Hilal packt ein heißes Eisen an und bringt es in einen persönlichen Kontext. Auch wenn ich mit der Darstellungsweise, der Argumentation und einer gewissen Kurzsichtigkeit nicht immer einverstanden bin, ist doch die Thematik selbst viel zu wichtig, um das Buch nicht zu würdigen. Denn eigentlich müsste für das Gendern ein weiterer Stern verpuffen. So aber bleiben dennoch vier Sterne stehen für die Vermittlung von manch befremdlicher Information und für den gesellschaftlichen Input. 

Kategorie: Essay.
Verlag: Hanser, 2023