Rezension

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Eine Geschichte, die einen nicht loslässt!

Regen von unten -

Regen von unten
von Barbara Lah

Bewertet mit 3 Sternen

Ich habe lange überlegt, wie ich meine Rezension formulieren soll, ich musste wirklich oft darüber grübeln.

Das Buch würde ich am ehesten als Mysterythriller bezeichnen. Es geht um einen ungeklärten Mordfall, um ein Dorf voller Geheimnise, in dem letztendlich jeder eine kleine oder größere Rolle an dem zu tragen scheint, was damals geschehen ist. Gleichzeitig ist es eine Geistergeschichte um ein verstorbenes Mädchen, gefesselt an unsere Welt, rund um eine tragische Liebesgeschichte.

Das klingt alles nach einer spannenden und geheimnisvollen Mischung, und das ist es definitiv. Auch der Schreibstil der Autorin hat mir wirklich gut gefallen, ebenso die Gedichte, die mit einflossen. Atmosphärisch wirklich schön, das verschwiegene Dorf ist vor einem geradezu zum Leben erwacht.

Anfangs fand ich den Protagonisten Paulo auch wirklich toll, ein schüchterner, stotternder Junge, der sich allein ins Dorf wagt, wo ihm alle mit Argwohn gegenüberstehen, und der sich zum Ziel setzt, das Geheimnis um das Geistermädchen aufzuklären.

Leider kam für mich auch sehr schnell ein Wendepunkt, an dem ich Paulo als wirklich furchtbar empfand. Ich empfand es so, dass er mit Fortschreiten der Geschichte eine unglaubliche Besessenheit gegenüber Emilia entwickelte, die gegen Ende völlig toxisch und wahnsinnig wurde. Ich glaube, das ist zum Teil auch von der Autorin so beabsichtigt gewesen, dadurch war es aber sehr nervenaufreibend, das Buch zu lesen. Ich habe nichts gegen Protagonisten die moralisch nicht einwandfrei sind, die sind mir sogar die liebsten, und ich feiere es auf der einen Seite, dass Paulo nicht der strahlende Held ist, der alles nur RICHTIG macht. Andererseits habe ich diese LIEBE von ihm zu Emilia nicht spüren oder nachvollziehen können. Er wusste so gut wie gar nichts von ihr, hatte wenige richtig emotionale Momente mit ihr, die mich als Leser hätten fühlen lassen, warum er ALLES für sie riskiert und deshalb andere Menschen rücksichtlos behandelt und sogar in Lebensgefahr bringt, nur um ihr damit vielleicht irgendwie helfen zu können. Ich konnte es einfach nicht nachvollziehen, ich habe diese Emotionen einfach nicht auffangen können. Und dabei kann die Autorin sehr wohl Beziehungen und Gefühle gut rüberbringen, sehr gut habe ich das z.B. in der Liebesgeschichte zwischen den beiden Jugendlichen in der Vergangenheit nachempfinden können (aus Spoilergründen keine Namen), das war wirklich greifbar und schön, und diese wurde in wesentlich weniger Kapiteln und Worten viel besser zur Schau gestelt, als das was von Paulo zu Emilia ging; das erstreckte sich im Grunde durchs ganze Buch und war für meine Verhältnisse einfach irritierend.
Selbst wenn die Autorin das bewusst so haben wollte (also den toxischen Paulo), hätte man dem Leser besser zeigen können, weshalb Paulo denn plötzlich so eine Versessenheit entwickelt.
Im Buch wird mehrmals erwähnt, das Emilia *alle* Männer im Dorf magisch anzieht, weil sie *das schönste Mädchen von allen* ist. Aber das war mir als Leser leider etwas zu schwach. Lass uns Emilia doch mal durch die Augen der Männer sehen. Ist es die Art, wie sie geht? Das Lächeln, das sie einem zuwirft? Die zerbrechliche Schönheit, die sich in ihren Augen spiegelt? Was ist denn so SCHÖN an ihr, dass es alle sofort fasziniert? Oder ist es wirklich nur eine 90-60-90 Statur und seidenlange Haare? Ich habe ständig gelesen, wie schön Emilia ist, aber leider hat es mich niemand nachempfinden lassen können. Im Laufe der Geschichte habe ich gespürt, dass sie einen guten Charakter und ein gutes Herz hat, und eine furchtbare Vergangenheit - aber warum alle in ihrem Bann waren, das hätte man den Leser meiner Meinung nach noch mehr fühlen lassen können.
Sie hat das ganze Dorf bewegt und verändert, das machte den Hauptteil der Story aus. Von daher hätte ich es schon als wichtig empfunden, dies auch besser nachvollziehen zu können.
Aber Paulo wurde für mein Empfinden mit der Zeit immer verrückter und toxischer. Und am Schlimmsten fand ich, dass das am Ende auch noch verhamlost wurde. Es ging literally darum, dass Paulo einer Person etwas FURCHTBARES angetan hatte und antun wollte, und diese Person nur durch fremde Hilfe davor bewahrt wurde. Aber anstatt, dass die logische Konsequenz wäre, Paulo dafür verhaften zu lassen, geschieht genau das nicht. Im Gegenteil, es wird auch noch gnadenlos verhamlost in dem sich jemand denkt: Ich bin mir sicher, XY wird Paulo das schon bald verziehen haben, sie kann ihm nicht lange böse sein. BÖSE sein? Ernsthaft? Sorry, aber ich nenne mal ein Beispiel: Wenn mich mein Schwarm foltert und qält, soll ich ihm also nicht lange böse deswegen sein, und am besten noch mit ihm zusammenkommen, weil eigentlich passen wir ja ohnehin ganz gut zusammen?
Es fiel mir wirklich schwer, das Buch zu bewerten, weil es auf der einen Seite so eine spannende Geschichte aufbaut, und die Story rund um Emilia wirklich interessant und einzigartig ist. Aber es gibt leider auch einige Punkte, vor allen Dingen rund um Paulo, die mich massiv gestört haben, und die für mich völlig toxisch sind, gerade was die Verharmlosung seiner Taten am Ende der Story angeht. Das ist wirklich kein Zeichen, das man setzen sollte - auch nicht in einer fiktiven Geschichte. Und was ich nochmal betonen will, es geht mir nicht darum, dass ein Charakter oder sogar Protagonist sich falsch verhält oder sogar psychppathische Züge annimmt - das darf ruhig so sein! Aber ich finde, man muss dieses Verhalten auch klar so benennen und Konsequenzen geschehen lassen, und es nicht am Ende einfach verharmlosen, als wäre nichts gewesen - bloß um scheinbar ein happy end für alle zu bekommen. Ich glaube, das hat mich daran so getriggert.

Wenn ich diesen Aspekt aber ignoriere (denn es handelt sich immer noch um Unterhaltungsliteratur), dann kann ich sagen: Spannende Story, die viel Spielraum zum eigenen miträtseln und Interpretation lässt. Scheinbar haben meine Kritikpunkte viele andere Leser gar nicht so empfunden, deswegen: alles meine persönliche Meinung. Gibt man das Buch 10 Leuten zum Lesen, erhält man wahrscheinlich 10 sehr unterschiedliche Meinungen.