Rezension

Ein Teppich aus Bildern und Geschichten

Astrids Vermächtnis -

Astrids Vermächtnis
von Lars Mytting

Bewertet mit 2 Sternen

Alle, die wie ich voller Begeisterung die ersten beiden Bände der Schwesternglockentrilogie gelesen haben, erwarteten sehnsüchtig das neue Buch des norwegischen Autors Lars Mytting, mit dem er seine Reihe um die Hekne - Schwestern und ihre Nachkommen beendet hat.
Es beginnt wie immer mit einem Rückblick ins frühe 17. Jahrhundert, zu jener Zeit, als die beiden Hekne- Schwestern lebten. Dabei wiederholt Mytting nicht nur Bekanntes, sondern fügt dem damaligen Geschehen neue Facetten hinzu. Dieses Mal geraten die Schwestern ins Visier der Kirche, die sie als „ Monstrum“ mit dem Teufel im Bunde wähnen.
Denn das Besondere an den Zwillingstöchtern Halfried und Gunhild war, dass sie an der Hüfte zusammengewachsen waren. Sie zählten zu den besten Weberinnen des ganzen Gudbrandstals und ihr Hauptwerk war jener legendäre Wandteppich, in den Prophezeiungen und das Ende des letzten Gemeindepfarrers hineingewebt wurden.
Dieser Pfarrer Kai Schweigaard tritt in allen drei Bänden auf und wird so zur zentralen Figur der Geschichte. Er kommt im ersten Band als junger fortschrittsgläubiger Pfarrer nach Butangen und verfügt, dass eine neue Kirche gebaut werden soll und lässt die alte Stabkirche von einem deutschen Architekturstudenten abbauen und nach Dresden versetzen. Aber schlimmer noch. Er veranlasst, dass die beiden Glocken, die den Schwestern zu Ehren gegossen wurden, getrennt werden. Dabei sollten sie zusammenbleiben, wie die beiden Schwestern, ansonsten drohe Unheil. Diese Schuld lastet schwer auf Kai Schweigaard.
Mittlerweile, wir sind im Jahr 1936, ist er ein alter Mann, der sich aber immer noch um seine Schäfchen kümmert. Eine besondere Verbindung besteht zum Hekne -Hof und hier vor allem zu Astrid. Sie ist die Enkelin jener Astrid, der großen, aber unerfüllten Liebe des Pfarrers.
Wie ihre Großmutter ist auch die junge Astrid eine selbstbewusste, starke Frau. Sie will genauso wenig wie ihr Bruder das väterliche Erbe antreten. Dabei haben es ihre Eltern mit sehr viel Pioniergeist und harter Arbeit zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Doch während ihr Bruder seine künstlerische Begabung entfalten möchte, strebt Astrid eine Ausbildung als Lehrerin an.
Allerdings werden die Pläne der Geschwister durch historische Umwälzungen zunichte gemacht. Im April 1940 marschieren deutsche Truppen in Norwegen ein und besetzen das Land. 
Der Krieg kommt damit auch in das abgelegene Gudbrandstal. Und die SS-Organisation „ Deutsches Ahnenerbe“ interessiert sich für den mythischen Wandteppich und die in Butangen verbliebene zweite Glocke.
Astrid, die denselben Kampfgeist hat wie ihre Großmutter, engagiert sich schnell im Widerstand gegen die Besatzungsmacht. Sie setzt ihr Leben und das ihrer Familie aufs Spiel, indem sie Informationen sammelt und weiterleitet. Bis die Nazis ihr auf die Spur kommen. Um sie zu retten, greift der Pfarrer zu drastischen Maßnahmen. Das fällt ihm nicht leicht, verstößt er damit doch gegen seine Glaubensgrundsätze und riskiert nicht nur sein irdisches Leben. 
Wieder verwebt Lars Mytting persönliche Schicksale mit historischen Gegebenheiten. Ist es am Anfang noch der Konflikt zwischen Tradition und Moderne, wie auch in den letzten beiden Romanen, so steht hier vor allem die Besatzungszeit und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung im Vordergrund. Mit Härte und Brutalität sorgen sie für eine Stimmung voller Misstrauen und Angst. Der frühere Zusammenhalt im Dorf ist dahin. Die einen schlagen sich auf die Seite der Besatzer, während andere voller Neid auf etwaige Günstlinge schauen. Wer sich auf die Seite des Widerstands stellt, muss sich permanent verstellen, muss auch seine Nächsten belügen, um diese nicht noch mehr in Gefahr zu bringen. Außerdem war niemand sicher, ob kein Verräter in den eigenen Reihen zu finden war. „ Der Krieg währte erst wenige Wochen, und wer im April noch ein Patriot war, war möglicherweise im Mai schon ein Verräter.“
Es gibt auch noch andere, die sich in den Dienst der Nazis stellen. Nicht weil sie deren Ideologie teilen, sondern weil sie vereint mit den Deutschen gegen die Bolschewiken kämpfen.
Lars Mytting hat auch in diesem Roman wieder glaubwürdige und komplexe Charaktere geschaffen. Es sind Menschen, die an den Herausforderungen, die das Leben an sie stellt, wachsen und reifen. „ Eins hat mich der Krieg gelehrt. Schwerter werden im Feuer geschmiedet und im Wasser gehärtet. Helden werden aus gewöhnlichen Menschen geschmiedet und härten tut sie das Unrecht.“ Andere wiederum sind voller Widersprüche, kämpfen mit sich und den Umständen, wie z. B. Tarald, Astrids Zwillingsbruder. Und der Leser lebt und leidet mit ihnen mit.
Doch neben der zeitgeschichtlichen Realität nimmt auch wieder der große Mythos um die Schwesternglocken und dem sagenhaften Wandteppich breiten Raum ein.
All das entfaltet Mytting mit seiner großen Sprachmacht. Bilderreich und detailliert entwirft er Szenen voller Atmosphäre und zieht so den Leser in seinen Bann.
Hat der Roman in der Mitte einige Längen, so gewinnt er gegen Ende hin wieder an Tempo und Spannung. Gekonnt führt der Autor die meisten Fäden am Ende zusammen. Dass hier ein paar Lücken bleiben müssen, ist der Fülle an Personen und Geschehnissen geschuldet.
Lobenswert ist der mehrere Seiten umfassende Überblick über die wichtigsten Figuren, Tiere und Gegenstände, die in allen drei Romanen eine wesentliche Rolle spielen. Ebenso die kurze Zusammenfassung über die historischen Hintergründe der deutschen Besatzung Norwegens; beides am Ende des Buches zu finden.
Auch wenn sich der Roman ohne Vorkenntnisse lesen lässt, empfehle ich die Bücher in ihrer Reihenfolge zu lesen. Erst dann wird man alle Zusammenhänge verstehen und kann völlig in diese Welt eintauchen.
Trotz kleiner Kritikpunkte halte ich „ Astrids Vermächtnis“ für einen würdigen Abschluss der Trilogie; Lars Mytting hat einen gewaltigen Teppich voller Bilder und Geschichten gewebt.