Rezension

De Sade und die Sünden von Big Oil

Otmars Söhne
von Peter Buwalda

Bewertet mit 4 Sternen

Wer Peter Buwaldas neuen Roman zur Hand nimmt, erwartet keinen subtilen Text der leisen Töne: Schon „Bonita Avenue“, sein Erstling aus 2014, war ein veritabler Kracher. Wie nicht anders zu erwarten, erweist sich „Otmars Söhne“ als keinen Ton leiser.

Der Roman ist der erste Teil einer Trilogie, deren Titel: 111. Und so beginnt er, rückwärts zählend, mit Kapitel 111 und endet bei Kapitel 75. Es geht darum, was Familie ausmacht, um Loyalität und Verrat. Es geht um die Dynamik toxischer Beziehungen. Und es geht um patriarchale Macht, ergo Sex - und die Sünden der Erdölkonzerne. Große Teile der Romanvergangenheit spielen in Lagos, Nigerias Hauptstadt; die Romangegenwart im russischen Sachalin.

Die Geschichte wird aus der Sicht dreier Figuren entwickelt: Ludwig, Stiefsohn des titelgebenden Otmar, Sohn eines Vaters, der sich schon vor der Geburt absentiert hat. Seine Stiefgeschwister sind Stars der klassischen Musik; klassische Musik spielt ebenfalls eine große Rolle im Roman. Dann ist da Isabelle, thailändischer Herkunft, adoptiert von einer großbürgerlichen Familie, die durch eine devot-dominante Liebschaft gesprengt wird. Außerdem Johan, mutmaßlicher Vater von Ludwig, Top Manager bei Shell. Isabelle und Ludwig haben eine Zeitlang in derselben Studenten-WG gewohnt, Isabelle ist nun investigative Journalistin und hat eine Rechnung mit Johan offen. Ludwig ist Sales Rep einer Firma, die seismische Messtechnik an Erdölkonzerne verkauft und Johan der Entscheider auf der Konzernseite. Ludwig, Johan und Isabelle treffen auf Sachalin zusammen – eine riesige sibirische Insel, auf der der Erdölkonzern Shell Förderanlagen betreibt.

Das erste Drittel des Romans erleben wir aus der von seiner sexuellen Störung beherrschten Sicht von Ludwig; dann wechselt die Perspektive zu Isabelle und die Story bekommt Schub, erst recht, nachdem Johan ins Spiel kommt. Wir erfahren den Hintergrund der Protagonisten, Gegenwart und Vergangenheit sind in den Reflektionen der Figuren eng verflochten. Wie Buwalda jeweils den Blickwinkel und die Zeit wechselt, quasi gleitend von einem Nebensatz auf den anderen, das fand ich wirklich kunstvoll gemacht. Dennoch kommt man nie durcheinander. Überhaupt mag ich Buwaldas Stil - seine originellen Metaphern, die extremen Charaktere und schrägen Ideen. Zum Beispiel heißt Isabelles bester Freund Abélard – der sich irgendwann einer Geschlechtsumwandlung unterzieht und fortan Héloise nennt. Aber genau das, dieses Schrille, die Arabesken, der Overdrive, das eben ist Buwalda. Dabei verliert er nie das Augenmaß für die innere Logik seines Plots – man kauft ihm jede Kapriole mit Vergnügen ab.

Sex spielt eine große Rolle im Roman. Es geht um Dominanz und Unterwerfung, um Macht also. Nach der Lektüre gab es viele Bilder in meinem Kopf, auf die ich gern verzichtet hätte. Im zweiten Drittel des Romans wird obendrein de Sade zitiert, nichts, was ich jemals lesen wollte. De Sade inszenierte sich mit seinen Schriften als antibürgerlicher Libertin, der die „wahre Natur“ des Raubtiers Mensch befreien wollte. So abstoßend das ist, es hat eine Funktion, denn de Sade und die Männer, die die Natur des Planeten vergewaltigen, haben viel gemeinsam. Johan Tromp glaubt wie de Sade, über Gesetz und Moral zu stehen.  Angesichts der grauenhaften de Sade-Zitate verwundert es einen, dass sich tatsächlich, von Beauvoir bis Adorno, namhafte Denker damit auseinandergesetzt haben. In Buwaldas Roman ist das die Rolle seiner weiblichen Protagonistin. Kann man de Sade relativieren? Der Autor lässt Isabelle eintauchen in die Welt der Konzernwölfe – und zunächst verwirrt, dann mit neuer Klarheit daraus hervorgehen. Mir gefiel die differenzierte Sicht dieser Figur – es gelingt ihm, durch ihre Augen Philosophie und Geschehen einzuordnen, ohne zu moralisieren. Ihre Reise ins vergiftete Nigerdelta fand ich höchst eindrücklich - krasse Bilder, die das amoralische Verhalten der Konzerne illustrieren.

Von daher wäre es aus meiner Sicht verfehlt, aus den vielen pornographischen Szenen auf Buwaldas Misogynie zu schließen. Seiner Isabelle gelingt es trotz allem, Subjekt zu bleiben – sie ist die moralische Instanz des Romans, anders als die männlichen Figuren, die zwischen Schwäche und Grausamkeit, Memme und Monster oszillieren und nicht in der Lage sind, über ihr Begehren hinauszudenken. Wenn ein Autor de Sade mit Andrea Dworkin kontrapunktiert, kann man ihm schlecht Maskulismus vorwerfen. Schon gar nicht, wenn er eine Figur erfindet wie Abélard/Héloise.

Der ganze Roman steuert mit wachsender Spannung auf das finale Zusammentreffen von Isabelle und Johan, Johan und Ludwig zu. Am Ende hat nur eins dieser Treffen stattgefunden – der Cliffhanger funktioniert. Wenn auch das erste Romandrittel um den zaudernden Ludwig mehr Stringenz hätte vertragen können,  ist Buwalda ein starker Nachfolger von Bonita Avenue geglückt. Hoffentlich müssen wir auf Teil II der Trilogie nicht wieder 7 Jahre warten.

Fazit: Nichts für schwache Nerven und zarte Gemüter – allen anderen sei der Roman empfohlen.