Rezension

Bittersweet Old Lady Marmalade

The Marmalade Diaries -

The Marmalade Diaries
von Ben Aitken

Bewertet mit 5 Sternen

Autor Ben Aitken sucht in London eine bezahlbare Wohnung und findet zur Untermiete eine Bleibe bei der alten Winnie. Doch dann kommt Corona und die beiden verbringen ihren Alltag enger miteinander, als sie zuvor gedacht hätten. Dabei lernen sie sich nicht nur gegenseitig kennen, sondern lernen auch voneinander und entwickeln so eine einzigartige Beziehung. In Form eines Tagebuchs berichtet Ben Aitken von seinen Erfahrungen in diesem Jahr mit Winnie auf warmherzige und unterhaltsame Weise, sodass „The Marmalade Diaries“ für mich ein „Wolldeckenroman“ in diesem Herbst war.

Vor allem hat das Buch von der einzigartigen Winnie gelebt! Die schlagfertige 85-Jährige musste in ihrem Leben so manchen Schlag verkraften, hat aber stets allem standgehalten und ist selbst in ihrem hohen Alter noch überraschend selbstständig und agil. Bestechend ist ihr trockener, britischer Humor, der mich so manches Mal zum Schmunzeln gebracht hat. Zudem hat sie zahlreiche Marotten, die der Autor liebevoll beschreibt, sodass ich die skurrile alte Dame gerne selbst kennengelernt hätte. Winnies Charakter lässt sich gut mit der Orangenmarmelade vergleichen, die sie gläserweise auf Vorrat kocht: bittersüß. Mit ihrer scharfen Zunge mag sie Leuten manchmal vor den Kopf stoßen, sie tut sich schwer, Gefühle offen zu zeigen, aber dennoch kümmert sie sich aufopferungsvoll um Familie und Freunde und pflegt Haus und Garten mit Hingabe.

Ben Aitkens beschreibt seine Erfahrungen mit Winnie warmherzig und lustig, doch wird an mancher Stelle auch nachdenklich, da Winnie ihn einiges über das Leben und zwischenmenschliche Beziehungen lehrt. Vor allem gegen Ende wird das Buch etwas trauriger und melancholischer, aber ich hatte nie das Gefühl, dass der Autor in diesen gedankenvolleren Passagen allzu philosophisch oder lebensklug daherkommt. Man merkt ihm seine Entwicklung, die das Zusammenleben mit Winnie bei ihm ausgelöst hat, im Laufe der Lektüre glaubhaft an und kann als Leser diesem Prozess nachvollziehen.

Man mag kritisieren können, dass in dem Roman nicht allzu viel passiert und es in diesem Art Tagebuch keine richtige Handlung gibt. Doch für mich passt der Stil des Buches zum Corona-Lockdown, denn zu dieser Zeit stand das Leben schließlich still und man war auf sein unmittelbares Umfeld beschränkt, sodass dort jedes Detail an Wichtigkeit gewonnen hat. Mich hat es gerührt, wie der Autor die kleinen Freuden des Alltags hervorhebt, auch wenn es andere Leser vielleicht langweilen mag, dass wiederholt das Abendessen mit Winnie die Highlights und scheinbar Hauptthema des Tages sind.

Auch sind die Symboliken und Metaphern, die der Autor verwendet nicht besonders raffiniert, wie das Feuer (sei es im Kamin oder des Lebens), dass am Brennen gehalten werden muss oder die bittersüße Marmelade, die die Beziehung zusammenklebt. Aber da Ben Aitken so auf der alltäglichen Ebenen bleibt und seine Leser nicht überfordert, war der Roman für mich sehr eingängig, hat sich flüssig und authentisch als Tagebuch eines jungen Mannes gelesen und war aufgrund des warmherzigen Tons ein „Wolldeckenroman“, in dem ich mich richtig wohlgefühlt habe. Besonders da ich den britischen Humor und die britische Kultur mag, war es ein Spaß, auf so unmittelbare Weise den Alltag einer alten englischen Dame und ihres jungen Mitbewohners kennenzulernen, auch wenn die Umstände ihres Zusammenlebens in so eine besondere Zeit gefallen sind.