Rezension

14 Tage - viele Stimmen - viele Identitäten

Vierzehn Tage
von Atwood

Bewertet mit 5 Sternen

Durch den Lockdown während der Corona-Pandemie 2020 finden sich die Hausmeisterin und die Bewohner eines heruntergekommenen fünfstöckigen Mietshauses in Brooklyn ans Haus gefesselt. Der Ausstieg auf das Dach (mit Handyempfang!) scheint ihr einziger Bezug zur Außenwelt zu sein. Die Sirenen der Krankenwagen vergegenwärtigen in jeder Minute hier oben, dass im weltweiten Vergleich New York eine der höchsten Todesraten hat.

Jeder Mieter bringt am Abend seine Sitzgelegenheit, Lampe und Getränk mit nach oben. Die Abstandsregel gilt auch hier; ein diffuses Misstrauen gegenüber einer möglichen Ansteckung durch die Nachbarn wird spürbar.  Alle scheinen einzige Bewohner ihre jeweiligen Apartments zu sein und noch ist unklar, ob alle Wohnschachteln bewohnt sind. Die Hausmeisterin, die lange namenlos bleibt, hat den Job gerade neu übernommen und sieht sich der Verantwortung für das Gebäude gegenüber, für das die Vermieter sich nicht zu interessieren scheinen. Der einzige Lichtblick für die junge, kräftige Frau ist „die Bibel“ ihres Vorgängers, ein Ringbuch, in dem er jedem Mieter einen Spitznamen verpasste und zur Person einige Stichwörter notierte. Nicht alle Seiten im Buch sind beschrieben. Spitznamen und die Apartment-Nummern definieren die Personen, die sich geschützt durch die Dunkelheit während einer Spanne von 14 Tagen Geschichten erzählen. Es gibt erlebte, weitererzählte, zitierte und gelogene Geschichten, sowie Sinnieren über das Erzählen an sich. Einige Personen schreiben selbst. Durch Spitzname, Person und die Figur, von der erzählt wird, wirkt das Ganze vielschichtig. Die Geschichten sind eng verflochten und wirken keinesfalls wie Kurzgeschichten. Themen sind z. B. der Tod, Krankheit, Familie, Aberglaube, Adoption, Rache und Musik.

In New York als Einwanderer-Stadt spielt fast in jeder Story  Herkunft, Identität und Hautfarbe eine Rolle. Herkunft scheint ein unerschöpflicher Fundus für das Erzählen zu sein. Mich zwang die Herkunft der Figuren zum Differenzieren; es genügte nicht mehr, jemanden z. B. nur Mittelamerika oder dem amerikanischen Süden  zuzuordnen. Hochinteressant fand ich die Dynamik in der Gruppe, wer sich wann zu Wort meldet oder wer sich zum Sprechen ermutigen lässt.

Mit einer pfiffig gewählten Rahmenhandlung handelt es sich hier tatsächlich um einen Roman, keine Anthologie, der die Handschrift von 36 zum großen Teil weltbekannten Autoren trägt und mit vielfältigen wie überraschenden Wendungen überzeugt.