Rezension

O’Nans "Halloween": Ein schauriger Blick in menschliche Abgründe

Halloween - Stewart O'Nan

Halloween
von Stewart O'Nan

Bewertet mit 5 Sternen

Die Rückkehr der Geister

Heute habe ich eine ganz besondere Buchempfehlung für euch, die es in sich hat. Wer jetzt jedoch angesichts des Titels einen blutigen Splatter-Roman erwartet, liegt falsch, denn Stewart O’Nans brillanter Roman Halloween ist ein vielschichtiger, gespenstiger Psychothriller, der unter die Haut geht. Bedrückende Schauereffekte unterstreichen die düstere Atmosphärik des Buches, die sich auch am fulminanten Ende nicht auflöst. Der Roman spielt in Avon/Connecticut: Es ist Halloween, und die Geister von drei Teenagern – Danielle, Chris, genannt Toe, und Marco – kehren zurück in ihre Heimatstadt, wo sie vor einem Jahr bei einem Unfall auf dem Highway ums Leben kamen, den sie selbst durch viel zu schnelles Fahren verursachten.

Das Drama der Toten – das Schicksal der Lebenden

Zwei ihrer Freunde – Tim und Kyle – überlebten damals das schreckliche Unglück, doch ihr Leben ist seitdem nicht mehr dasselbe: Kyle, der unkonventionelle Rebell, ist schwer entstellt und auf dem geistigen Stand eines 5-jährigen, während Tim mit seinen immer gravierender werdenden Schuldgefühlen kämpft und innerlich völlig leer und ausgebrannt ist. Beide halten sich mit einem Aushilfsjob in einem Supermarkt über Wasser, das unsichtbare Band des grauenvollen Geschehnisses schweisst sie wie Brüder zusammen. Doch während Kyle unfähig ist, sich zu erinnern und von einem Tag zum anderen lebt, bringt Halloween für Tim die schrecklichen Erinnerungen zurück.

Gleiches gilt für Johnny Brooks, der Polizist, der sich damals eine wilde Verfolgungsjagd mit den fünf Jugendlichen auf dem Highway lieferte, als er versuchte, sie zu stoppen. Für den daraus resultierenden Unfall gibt er sich die Schuld, eine Last, die er kaum tragen kann. Seine Ehe scheiterte, und auch in seinem Job geht es abwärts mit ihm, denn die Bilder von damals verfolgen ihn mit derartiger Intensität, dass er halluziniert und sich in der Realität kaum noch zurecht findet. Immer wieder fährt er zum Unfallort und begutachtet den Baum, gegen den die Teenager mit so hoher Geschwingkeit prallten, dass Danielle, die aus dem Wagen geschleudert wurde, beinahe vollständig enthauptet wurde. Eine Rückkehr in sein altes Leben ist für Johnny ausgeschlossen, er fühlt sich als lebender Toter, der nur noch dahinvegetiert.

Traurige Normalität

Dies alles nehmen die drei Geister Danielle, Chris und Marco zur Kenntnis: Um Kyle und Tim tut es ihnen leid, doch nicht um Johnny. Mit einer gewissen Genugtuung beobachten sie sein Leiden und seinen aussichtslosen Kampf mit seinen Schuldgefühlen. Sie besuchen auch ihre Eltern und die ihrer Freunde und stellen fest, dass das Leben ohne sie weitergeht bzw. weitergehen muss. Während die Eltern von Tim und Kyle froh sind, dass ihre Kinder überlebt haben, versuchen die Eltern der Toten, mit ihrer Trauer fertigzuwerden. Es hat sich ein trauriger Automatismus eingestellt, der nach dem Verlust eines geliebten Kindes die einzige Chance auf Normalität und ein Antrieb zum Weitermachen ist.

Ein schrecklicher Plan

Der Tag neigt sich dem Ende, als Danielle, Chris und Marco bemerken, dass der in sich gekehrte Tim einen furchtbaren Plan gefasst hat, der auch Kyle und – wenn auch unbeabsichtigt – Johnny mit einbezieht. Sie müssen zusehen, wie sich an dem Tag, an dem sich ihr grauenhafter Unfall jährt, eine erneute Katastrophe anbahnt, die ihre Heimatstadt ein weiteres Mal erschüttern wird…

O’Nans Halloween: Ein schauriger Blick in menschliche Abgründe

Dieser Gänsehaut-Roman des amerikanischen Meistererzählers Stewart O’Nan ist wirklich eine Klasse für sich. Ich muss gestehen, dass ich kein großer Fan von Geistergeschichten bin, aber diese hat mich in ihren Bann gezogen. Der Autor lässt die Toten lebendig werden und sie mit der Welt der Lebenden verschmelzen. Doch während die Toten verstörend lebendig sind, wirken die Lebenden innerlich erloschen. Sie alle rekapitulieren auf ihre ganz eigene Weise die Nacht, die alles veränderte und die sie zu dem gemacht hat, was sie jetzt sind. Es gibt kein Zurück, sondern nur ein Hier und Jetzt, das von den dunklen Schatten der Vergangenheit dominiert wird.

In seiner einzigartigen Geschichte thematisiert O’Nan mit seinem unnachahmlichen, soghaften Erzählstil die großen Themen Schuld und Verlust und gewährt einen schaurigen Blick in menschliche Abgründe. Die Psychogramme der Protagonisten Tim und Johnny sind dem Autor ganz besonders gelungen. Die erschreckende Intensität dieser Hauptfiguren macht den Roman zu einem unheimlichen Leseerlebnis sondergleichen, das bis zum dramatischen Ende in Atem hält.