Rezension

Hallo? Ist da jemand?

Mein Name ist Estela -

Mein Name ist Estela
von Alia Trabucco Zerán

Bewertet mit 3.5 Sternen

Der erste Satz des Romans ist auch gleichzeitig der Buchtitel und man weiß zunächst nicht, an wen sich Estela eigentlich richtet. Sind es die Leser oder ist es jemand auf der anderen, verspiegelten Seite des Verhörraums, in dem sie sich offensichtlich befindet. Ist dort überhaupt jemand oder redet sie bloß gegen eine Wand?

All das ist nicht klar, hindert Estela aber nicht daran, ihre Geschichte zu erzählen - ungefragt und ohne Unterbrechnungen. Die einzige, die sich immer wieder unterbricht, ist sie selbst. Sie schweift ab, korrigiert sich, beginnt von vorne. Desweiteren gibt sie Anweisungen an ihre mutmaßlichen Zuhörer wie "Notiert das!`" oder "Streicht das!"

40 Jahre ist Estela alt, als wir sie kennenlernen. 7 Jahre war sie Hausmädchen bei einer dreiköpfigen Familie. Alles hat man ihr an die Hand gegeben: Kochen, Putzen, Wäsche waschen, Einkaufen und natürlich auch das Kind. Immer hieß es "Mach du das!" Stumm hat sie alles über sich ergehen lassen, bis der Tag kam, an dem irgendetwas passiert sein muss, was sie schließlich in diesen Verhörraum geführt hat.

Und nun redet sie sich alles von der Seele, was ihr in den 7 Jahren widerfahren ist. Anklagend, ungeschönt, zornig, erschöpft.

Da ich mit 19 Jahren ein Jahr als Au pair-Mädchen in Frankreich verbracht habe, kam mir manches durchaus bekannt vor: Mangelnde Privatsphäre, Übergriffe, ungeregelte Aufgabenverteilung, etc. Allerdings wirkte Estela auf mich zunächst sehr unreif und kam aus ihrer passiven Haltung erst am Ende der Geschichte heraus. Da ist sie immerhin schon 40 und hat in all den Jahren nicht einmal den Mund aufgekriegt. Sympathisch war mir keine der Figuren: der Vater, ein Arzt, triezt seine Tochter zu Höchstleistungen und duldet keine Schwäche, die Mutter klebt Zettel an den Kühlschrank und redet in der Wir-Form, obwohl klar ist, dass Estela die Aufgaben alleine zu erledigen hat. Auch das Kind entwickelt sich zu einer Tyrannin. Doch selbst Estela kommt nicht liebenswert rüber. Das Kind ist ihr lästig, da es sie von der Arbeit abhält.

Eingebunden ist die Geschichte in den Kontext der Ausschreitungen von 2019/2020 als es in Chile zu Protesten gegen soziale Ungerechtigkeit kam. Die Wut der Massen, die sich damals in den Straßen entlud, wurde von der Autorin eigentlich ganz geschickt in die Geschichte eingebaut, dennoch war ich mit dem Ausgang nicht so recht zufrieden. Zu vieles bleibt offen und dass die Protagonistin 240 Seiten lang auf ihre Zuhörer einredet, nachdem sie 7 Jahre lang geschwiegen hat, erscheint mir nicht glaubwürdig. Aber es ist ein Blick auf die heutige chilenische Gesellschaft, wobei die Geschichte genauso gut in Frankreich spielen könnte.