Rezension

Ein wundervoll grausames Märchen

Der Märchenerzähler - Antonia Michaelis

Der Märchenerzähler
von Antonia Michaelis

Klappentext:
Abel Tannatek ist ein Außenseiter, ein Schulschwänzer und Drogendealer. Wider besseres Wissen verliebt Anna sich rettungslos in ihn. Denn es gibt noch einen anderen Abel: den sanften, traurigen Jungen, der für seine Schwester sorgt und der ein Märchen erzählt, das Anna tief berührt. Doch die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen. Was, wenn das Märchen gar kein Märchen ist, sondern grausame Wirklichkeit? Was, wenn Annas schlimmste Befürchtungen wahr werden?

Die Autorin:
Antonia Michaelis wurde in Kiel geboren und ist in Augsburg aufgewachsen. Sie hat in Greifswald Medizin studiert und unter anderem in Indien, Nepal und Peru gearbeitet. Heute lebt sie mit Mann und zwei Töchtern gegenüber der Insel Usedom im Nichts, wo sie zwischen Seeadlern, Reet und Brennnesseln in einem alten Haus lauter abstruse Geschichten schreibt.

Meine Meinung:
Was soll ich sagen? Ich bin immer noch sprachlos. Das ist das dritte Buch, das ich von Antonia Michaelis gelesen habe, und wieder einmal bin ich schier überwältigt. Warum? Dafür gibt es viele Gründe. Die Geschichte, die hier zu Papier gebracht wurde, ist grausam, dennoch wunderbar erzählt und wartet mit so viel Realismus auf, dass man gewarnt wird, nicht immer auf sein Herz zu hören, auch wenn das grausam klingt.
Verliebe dich niemals in einen unnahbaren, geheimnisvollen Jungen, der dir ständig sagt, dass das Märchen, das er erzählt, nicht gut ausgehen wird. Dass du dich von ihm fernhalten sollst, dass er sich für nichts und niemanden ändert. Der mit Drogen dealt, im Unterricht schläft und aus dem man nie schlau wird, egal, wie man sich anstrengt. Der aber auch eine zärtliche Seite hat, die seine kleine Schwester Micha kennt, der Märchen erspinnt, die näher mit der Realität verwoben sind, als man zuerst wahrnimmt und der in sich gebrochen ist. Du weißt es nur noch nicht.

Die Geschichte zeigt aber auch, warum ein Mensch oft so ist, wie er ist, und warum er nicht immer aus seiner Haut kann und will. Und dass man Dinge tut und sagt, die man nicht so meint, aber dann ist es zu spät. Denn dann brechen Herzen und diese können niemals wieder zusammengesetzt werden, auch wenn man alle Stücke aufsammelt und sie wieder vereint. Sie passen einfach nicht mehr.

Anna, 17 Jahre und ein sympathisches Mädchen, das noch nie einen Freund hatte, wird eines Tages auf Abel, von allen "polnischer Kurzwarenhändler" genannt, aufmerksam. Er ist unnahbar, macht Anna klar, dass sie ihn in Ruhe lassen soll, doch sie lässt nicht locker und will für ihn und seine Schwester da sein, nicht ahnend, in welche Gefahr sie sich begibt, denn ein Mörder schleicht durch Greifswald und hat es offenbar auch auf Abel abgesehen. Und so nimmt das Unglück seinen Lauf...

Ich finde es wunderbar, wie Antonia Michaelis Fiktion - das Märchen der Klippenkönigin - und die Ralität verwoben hat. Jedes Wort, das sich in den Sätzen, in die bildhaften Beschreibungen einfügt, trifft ins Mark - gleicht einer poetischen Sinfonie, die die Handlung umso schauerlicher macht.
Man möchte Anna schützen, ihr die Naivität nehmen, die sie immer noch in sich trägt, kann ihr nicht böse sein, dass sie an das Gute glauben will.
Anna ist einfach Anna.

Natürlich wird das Werk die Leserschaft spalten, keine Frage. Doch wenn man genau darüber nachdenkt, liegen die Geschehnisse, die wie Dominosteine in eine bestimmte Richtung nacheinander fallen, tiefer. Die Frage ist, wer kann Dinge verzeihen, die einen zu zerbrechen drohen, und warum? Die Antwort liegt auf der Hand: Es ist die Liebe, die oft eigenartige Wege geht, die uns oft zu viel aushalten lässt, die die Grenzen zwischen Märchen und Wirklichkeit verschwimmen lässt. Dann werden wir angreifbar. Und manchmal lohnt es sich, einen Blick hinter die Fassade zu werfen, auch wenn es dann oftmals zu spät ist.

Ich nehme aus der Geschichte mit, dass man tiefer graben sollte, um jemanden zu verstehen, dass man nicht alles vergeben sollte und dass es durchaus Happy Ends geben kann, nur nicht für alle.

5 Sterne.