Rezension

Poetische Grausamkeit und grausame Poesie

Der Märchenerzähler - Antonia Michaelis

Der Märchenerzähler
von Antonia Michaelis

Bewertet mit 5 Sternen

Inhalt: Anna hat sich rettungslos verliebt – in Abel Tannatek, einem Außenseiter, Schulschwänzer und Drogendealer. Doch sie kennt auch seine andere Seite: den sanften Jungen, der für seine Schwester sorgt und ein Märchen erzählt, das so fantastisch wie berührend ist. Doch mit jedem weiteren Kapitel verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie. Was, wenn das Märchen, das Abel erzählt, kein Märchen, sondern grausame Wirklichkeit ist?

 

 

Der Story-Stapel

Erster Satz: „Blut.“

Vermutlich trifft bereits dieser erste Satz schon den grausamen Kern der Geschichte – das Buch ist keine schöne Liebesgeschichte oder ein lustiges Jugendbuch. Es ist hart, grausam und trotzdem sehr poetisch. Wir begleiten Anna in dieser Geschichte, deren Neugierde auf den Außenseiter Abel wächst. Schon bald kann sie hinter die Fassade des unnahbaren Jungen schauen und entdeckt dabei seine Märchenerzählerseite. Dieses Märchen zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und anfangs erfreut man sich der hübschen Worte. Doch schon bald mischt sich die Geschichte mit der Realität und man selber weiß nicht mehr, was man glauben kann und was nicht. Diese gekonnte Verknüpfung des Märchens mit der eigentlichen Geschichte und das immer stärkere Zusammenziehen der Schlinge haben wahrlich einen Lesesog auf mich ausgewirkt, so dass ich das Buch kaum zur Seite legen konnte.

Eine Szene in dem Buch (Bootshaus) ist auch für mich umstritten, da das Gefühl einer Verharmlosung entstehen kann und trotzdem passt sie zur Geschichte.

 

Der Charakter-Stapel

Wir haben hier zwei Charaktere, die defintiv keinen Vorbildcharakter haben und ich denke auch, dass das von der Autorin beabsichtigt ist.

Anna ist unglaublich naiv, verträumt und lebt (wie sie es selber sagt) in einer Seifenblase. Diese Naivität bzw. der Glaube an das Gute zieht sich durch das Buch und erklärt viele ihrer Reaktionen. Ihr fehlt ein Gefühl von Angst, wenn es sinnvoll ist. Stattdessen wirkt sie manchmal genauso blauäugig, wie sie ihr Familienhaus beschreibt. Selbst der Schluss beweist, dass sie ihre Traumwelt nie wirklich verlassen hat und es somit keine Entwicklung in dem Sinne für sie als Charakter gab.

Abel ist so viel… zu viel für einen jungen Mann – er ist ein Grenzgänger mit so vielschichtigen Eigenschaften, dass man als Leser ständig zwischen Faszination, Hoffnung und Ekel sowie Furcht schwankt. Er ist klug und kreativ und kämpft um seine Schwester und dann ist er der Dealer, der in der Schule schläft und nachts in zwielichtigen Gegenden unterwegs ist. Man kann seinen Charakter als Leser kaum fassen und bis zum Schluss bleibt er unnahbar. Selbst Anna hat ihn nie wirklich ganz erreicht und genau diesen Abstand benötigt man als Leser auch, um mit diesem Charakter klar zu kommen. Abel ist alles – gut und böse, Schatten und Licht und somit hofft man bis zum Schluss, vermutet und überlegt, wie das alles noch gut werden kann.

 

Der Stil-Stapel

Poetisch und anders – Antonia Michaelis verpackt selbst grausame Dinge in schöne Worte, sodass das Buch einen besonderen Stil hat. Als Leser ist man von dieser Poesie gefesselt. Der Stil wirkt passend zur Geschichte und nie gewollt. Gleichzeitig fliegen die Seiten, denn trotz des poetischen Schreibstils liest es sich unglaublich flüssig!

 

Der Kritik-Stapel

Treffen hier zu viele Themen auf den Leser und vereinen sich in einem Charakter oder ist es genau richtig gewählt, um zu zeigen, dass die Realität grausam sein kann und Gewalt keine Grenzen kennt? Auch die Szene im Bootshaus kann und muss kritisch betrachtet werden, aber genau darum geht es ja auch. Wer diese Szene überliest wie eine Landschaftsbeschreibung, hat das Buch nicht verstanden. Es geht darum, mit zwei überspitzen und unnahbaren Charakteren die Realität zu zeigen und sie mit der Poesie zu verknüpfen. Das Buch ist kein leichter Lesestoff und ein Jugendbuch ist es auch nicht, sondern eher für Leser ab mindestens 16 Jahre, da viel Reflektieren zur Geschichte gehört.

 

Auf den Lesen-Stapel?

Ja, denn auch wenn es harte Szenen gibt und die Grausamkeit selbst hartgesonnene Leser einholt, so ist dieses Werk doch so poetisch und wahr, dass es direkt ins Herz und den Kopf geht. Man muss darüber nachdenken, man muss hoffen – egal, wie ausweglos Situationen erscheinen und man schlägt vermutlich oft die Augen nieder, weil so viele Themen angesprochen werden, die gewiss nicht schön sind, aber leider Realität. Und genau das ist es – das Buch spiegelt das Alltägliche wider, verpackt in schönen Worten und mit Szenen, die wehtun, da die Charaktere so überspitzt sind. Eine Leseempfehlung für jeden, der grausame Poesie sucht und das Buch reflektiert und mit Abstand betrachtet. Von mir gibt es 5 Sterne und den poetischen Platz auf Karlys Schätzestapel.