Rezension

Ein Irrlicht von einem Roman

Die Rache ist mein -

Die Rache ist mein
von Marie Ndiaye

Bewertet mit 4.5 Sternen

Warnung: Marie Ndiaye macht es ihren Leserinnen nicht leicht; das tut sie nie. Da ist zunächst die erzählende Hauptfigur, Maître Susane, etwas unglücklich abgekürzt Me, was nicht jede deutsche Leserin zu übersetzen weiß. Eine seltsame Frau, groß, massiv, nicht hübsch, von der wir den Vornamen nie erfahren. Dann M Principeaux, Ehemann der Mutter, die ihre drei Kinder in der Badewanne ertränkt hat und der Me Susane engagiert, um seine Ehefrau zu verteidigen. Eine weitere große Rolle spielt Sharon, die Putzhilfe/Haushälterin von Me Susane, die sich illegal in Frankreich aufhält und hofft, dass Me Susanes ihr und ihrer Familie in den Stand der Legalität verhelfen kann. Schließlich noch Me Susanes Eltern, die darauf bestehen, dass sie als Elfjährige von M Principeaux, damals 14, missbraucht worden sei – woran sich Me Susane partout nicht erinnern kann. Diese Personen bilden ein Labyrinth der Beziehungen, einen Strudel der Ambivalenz, in deren Zentrum Me Susane steht.

Vor allem das erste Drittel des Romans baut beträchtliche Spannung auf, ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen. Warum beschäftigt Me Susane Sharon, obwohl sie sie eigentlich gar nicht braucht? Woher rührt Sharons Misstrauen Me Susane gegenüber? Warum kann sich M Principeaux nicht an Me Susane erinnern, wenn stimmt, was Me Susanes Vater unterstellt? Warum hat er ausgerechnet sie Anwältin ohne besondere Reputation engagiert? Warum hat Marlyne, die mörderische Mutter, ihre Kinder getötet? Und warum ist sie die Einzige, die die Stirnwunde sehen kann, die sich M Susane bei einem Sturz zugezogen hat? Und letztlich, mit Blick auf den Titel, wer wird an wem wann aus welchem Grund Rache üben?

Ndiaye tut uns nicht den Gefallen einer eindeutigen Auflösung. Stattdessen führt sie uns den französischen Klassismus vor und verknüpft diesen mit Frankreichs Kolonialgeschichte – dies in Gestalt eines Klienten, der seinen Namen ändern will, weil er eine Historie des Sklavenhandels in seiner Familie vermutet. Beim Schauplatz des Romans, Bordeaux, das einmal eine Metropole des Sklavenhandels war, muss man davon ausgehen, dass das gesamte "alte Geld" der Stadt, also auch das der Principeaux´, direkt oder indirekt durch den Sklavenhandel oder den Kolonialismus erworben wurde. Dieses Thema ist virtuos in die Story eingewoben. Im Grunde kreist alles in diesem Roman um die Frage des Status, der Klassenzugehörigkeit, für die es eine Unzahl subtiler Indikatoren gibt. Wir begegnen mit Me Susane einer Frau mit Migrationshintergrund, deren Aufstieg nur halb geglückt ist und die ständig (sehr belastend für sie) zwischen den Zugehörigkeiten oszilliert. Interessant fand ich, dass Sharon, der Platzhalterin der Versklavten bzw. Kolonisierten mitsamt ihren Kindern eine Art Adel des Blutes zugeschrieben wird; oft bezeichnet Me Susane Sharon und deren Kinder als edel, anmutig und schön. Sharons Gatte hingegen ist in ihren Augen der Ausbeuter seiner Partnerin. Der Mann als Kolonialherr der Frau?

Sprachlich ist der Roman ein Genuss; er beeindruckt durch eine Reihe brillanter Kunstgriffe, etwa wenn Ndiaye die Aussage Marlynes in einem Endlossatz mit einer Unzahl von „aber“ verknüpft und bei der Aussage des Ehemanns mit ebenso vielen „denn“. Im letzten Drittel, das in Sharons Heimat Mauritius spielt, verlieren sich alle Gewissheiten; Me Susane scheint sich aufzulösen, andererseits aber auch wieder eine verdichtete Präsenz zu gewinnen. Zum Ende hin, wieder in Paris,  wird der Text von einem Flackern zum Flirren – und macht die Verwirrung komplett. An der Stelle übertreibt Ndiaye etwas; etwas mehr Fassbarkeit wäre schön gewesen. Es gibt so viele Ebenen im Roman, dass mindestens ebenso viele Interpretationen möglich sind. Nur Eindeutigkeit darf man nicht erwarten.  

Ein faszinierendes Irrlicht von einem Roman.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 23. Dezember 2021 um 19:06

Jammer. Ich habe ein Buch von ihr auf dem SuB. Hätte ich doch die Finger davon gelassen. Seufzjammer. Herrliche Rezi. Sagt mir genau, dass diese Autorin absolut nichts für mich ist.

Bücherhexle kommentierte am 21. Januar 2022 um 11:47

Wunderbare, treffende Rezension für dieses Buch! Ich habe es freiwillig gelesen und war insbesondere über deine Gedanken in der Leserunde sehr glücklich:-)