Rezension

Psychologisches Verwirrspiel

Die Rache ist mein -

Die Rache ist mein
von Marie Ndiaye

Bewertet mit 4.5 Sternen

Maitre Susane ist Anwältin in Bordeaux. Sie hat sich aus kleinen Verhältnissen emporgearbeitet, jedoch eine lukrativere Stelle in einer größeren Kanzlei aufgegeben, um selbständig zu arbeiten. Ihr eigenes Büro läuft mehr schlecht als recht, sie hat nur wenige Mandanten. Eine von ihnen ist Sharon, ihre aus Maurizien stammende Hausangestellte, die mit ihrer Familie von der Abschiebung bedroht ist. Me Susane soll das verhindern.

Am 5. Januar 2019 betritt Gilles Principaux ihre Kanzlei, der sie mit einem spektakulären Fall betrauen will: Seine geliebte Frau Marlyne sitzt wegen Mordes im Gefängnis, sie soll die drei gemeinsamen Kinder umgebracht haben. Me Susane soll ihre Verteidigung übernehmen. Einerseits freut sie sich über den Auftrag, der ihr zu mehr Ansehen verhelfen kann, andererseits verbindet sie mit Principaux ein aufrührendes, folgenschweres Erlebnis in ihrer Kindheit, von dem ihr nicht ganz klar ist, ob es sich dabei um einen Fluch oder einen Segen handelt. Die Erinnerungen daran bringen sie allerdings gehörig durcheinander. Sie beginnt Nachforschungen anzustellen, ob es sich bei der Person von damals wirklich um Gilles handelte. Ihre Eltern scheinen sie dabei nicht unterstützen zu wollen.

Parallel dazu lernen wir Sharon besser kennen, die Me Susane in ihrem Haushalt beschäftigt, ohne wirklich Arbeit für sie zu haben. Es verdichtet sich der Eindruck, dass Sharon Geheimnisse hat, dass sie der Anwältin bewusst Informationen vorenthält, die die Erlangung einer Aufenthaltsgenehmigung vereinfachen  würden. Die Beziehung der beiden Frauen wirkt unklar und unaufrichtig.

Diese beiden Handlungsstränge vermischen sich zusehends. Wir erfahren dabei alles aus der Perspektive der Anwältin. Zwangsläufig wird der Leser von ihr beeinflusst. Zunächst glaubt man zweifelsfrei alles, was Me Susane berichtet. In der Interaktion mit anderen Figuren kommen allerdings Zweifel auf. Sehr spannend auch die unterschiedlichen Sichtweisen der Eheleute Principaux, die nacheinander zum Tathergang verhört werden. Es tun sich immer mehr Zweifel und Ungereimtheiten auf, als Leser ist man auf der Suche nach der Wahrheit und den Zusammenhängen der Sachverhalte.

Me Susane hat zudem ein angespanntes Verhältnis mit ihren Eltern. Sie fühlt sich von ihnen nicht als Individuum akzeptiert und permanent kritisiert. Offenbar haben sie ihrer Tochter auch die Trennung von Freund Rudy nicht verziehen, der mittlerweile verheiratet ist und selbst eine Tochter hat.

„Die Rache ist mein“ muss man höchst aufmerksam lesen. Immer wieder finden sich eingestreute Hinweise, die neue Erkenntnisse hervorbringen. Zunehmend verzahnen sich die Handlungsstränge an dem ein oder anderen Punkt, es treten Spiegelungen auf. Man hinterfragt die Aufrichtigkeit der Erzählerin und ihre unzuverlässige Erinnerung ebenso wie die Aussagen der Eheleute Principaux. Das Ganze entwickelt sich zu einem höchst psychologischen Verwirrspiel, dessen anspruchsvolle Sprachgestaltung mich von Anfang an in seinen Bann gezogen hat. Man will immer mehr erfahren, will die dunklen Stellen der Geschehnisse beleuchtet wissen. Doch die Autorin tut uns nicht den Gefallen, alles dezidiert aufzulösen. Sie legt Fährten, schaltet hier und da ein Licht an, leuchtet aber nicht alles aus. Es ist ein Buch zum Nachdenken. Auch über die Frage der hintergründigen Ebenen: Worum geht es im Kern? Um tradierte Frauen- und Familienbilder, um Rollenklischees, um Asylpolitik, um Rassismus und Diskriminierung,…? Man kann wunderbar darüber schwadronieren und nachdenken. Vordergründig ist es ein absolut packender, psychologisch dichter und fesselnder Roman, der auch viel über die französische Gesellschaft aussagt.

Unbedingt empfehlenswert!

 4,5/5 Sterne